Seite - 12 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Sie können also eine psychoanalytische Behandlung nicht mitanhören. Sie können nur von ihr
hören und werden die Psychoanalyse im strengsten Sinne des Wortes nur vom Hörensagen
kennenlernen. Durch diese Unterweisung gleichsam aus zweiter Hand kommen Sie in ganz
ungewohnte Bedingungen für eine Urteilbildung. Es hängt offenbar das meiste davon ab,
welchen Glauben Sie dem Gewährsmann schenken können.
Nehmen Sie einmal an, Sie wären nicht in eine psychiatrische, sondern in eine historische
Vorlesung gegangen und der Vortragende erzählte Ihnen vom Leben und von den Kriegstaten
Alexanders des Großen. Was für Motive hätten Sie, an die Wahrhaftigkeit seiner Mitteilungen zu
glauben? Zunächst scheint die Sachlage noch ungünstiger zu sein als im Falle der Psychoanalyse,
denn der Geschichtsprofessor war so wenig Teilnehmer an den Kriegszügen Alexanders wie Sie;
der Psychoanalytiker berichtet Ihnen doch wenigstens von Dingen, bei denen er selbst eine Rolle
gespielt hat. Aber dann kommt die Reihe an das, was den Historiker beglaubigt. Er kann Sie auf
die Berichte von alten Schriftstellern verweisen, die entweder selbst zeitgenössisch waren oder
den fraglichen Ereignissen doch näher standen, also auf die Bücher des Diodor, Plutarch, Arrian
u. a.; er kann Ihnen Abbildungen der erhaltenen Münzen und Statuen des Königs vorlegen und
eine Photographie des pompejanischen Mosaiks der Schlacht bei Issos durch Ihre Reihen gehen
lassen. Strenge genommen beweisen alle diese Dokumente doch nur, daß schon frühere
Generationen an die Existenz Alexanders und an die Realität seiner Taten geglaubt haben, und
Ihre Kritik dürfte hier von neuem einsetzen. Sie wird dann finden, daß nicht alles über Alexander
Berichtete glaubwürdig oder in seinen Einzelheiten sicherzustellen ist, aber ich kann doch nicht
annehmen, daß Sie den Vorlesungssaal als Zweifler an der Realität Alexanders des Großen
verlassen werden. Ihre Entscheidung wird hauptsächlich durch zwei Erwägungen bestimmt
werden, erstens, daß der Vortragende kein denkbares Motiv hat, etwas vor Ihnen als real
auszugeben, was er nicht selbst dafür hält, und zweitens, daß alle erreichbaren Geschichtsbücher
die Ereignisse in ungefähr ähnlicher Art darstellen. Wenn Sie dann auf die Prüfung der älteren
Quellen eingehen, werden Sie dieselben Momente berücksichtigen, die möglichen Motive der
Gewährsmänner und die Übereinstimmung der Zeugnisse untereinander. Das Ergebnis der
Prüfung wird im Falle Alexanders sicherlich beruhigend sein, wahrscheinlich anders ausfallen,
wenn es sich um Persönlichkeiten wie Moses oder Nimrod handelt. Welche Zweifel Sie aber
gegen die Glaubwürdigkeit des psychoanalytischen Berichterstatters erheben können, werden Sie
bei späteren Anlässen deutlich genug erkennen.
Nun werden Sie ein Recht zu der Frage haben: Wenn es keine objektive Beglaubigung der
Psychoanalyse gibt und keine Möglichkeit, sie zu demonstrieren, wie kann man überhaupt
Psychoanalyse erlernen und sich von der Wahrheit ihrer Behauptungen überzeugen? Dies
Erlernen ist wirklich nicht leicht, und es haben auch nicht viele Menschen die Psychoanalyse
ordentlich gelernt, aber es gibt natürlich doch einen gangbaren Weg. Psychoanalyse erlernt man
zunächst am eigenen Leib, durch das Studium der eigenen Persönlichkeit. Es ist das nicht ganz,
was man Selbstbeobachtung heißt, aber man kann es ihr zur Not subsumieren. Es gibt eine ganze
Reihe von sehr häufigen und allgemein bekannten seelischen Phänomenen, die man nach einiger
Unterweisung in der Technik an sich selbst zu Gegenständen der Analyse machen kann. Dabei
holt man sich die gesuchte Überzeugung von der Realität der Vorgänge, welche die
Psychoanalyse beschreibt, und von der Richtigkeit ihrer Auffassungen. Allerdings sind dem
Fortschritte auf diesem Wege bestimmte Grenzen gesetzt. Man kommt viel weiter, wenn man
sich selbst von einem kundigen Analytiker analysieren läßt, die Wirkungen der Analyse am
eigenen Ich erlebt und dabei die Gelegenheit benützt, dem anderen die feinere Technik des
Verfahrens abzulauschen. Dieser ausgezeichnete Weg ist natürlich immer nur für eine einzelne
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin