Seite - 13 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Person, niemals für ein ganzes Kolleg auf einmal gangbar.
Für eine zweite Schwierigkeit in Ihrem Verhältnis zur Psychoanalyse kann ich nicht mehr diese,
muß ich Sie selbst, meine Hörer, verantwortlich machen, wenigstens insoweit Sie bisher
medizinische Studien betrieben haben. Ihre Vorbildung hat Ihrer Denktätigkeit eine bestimmte
Richtung gegeben, die weit von der Psychoanalyse abführt. Sie sind darin geschult worden, die
Funktionen des Organismus und ihre Störungen anatomisch zu begründen, chemisch und
physikalisch zu erklären und biologisch zu erfassen, aber kein Anteil Ihres Interesses ist auf das
psychische Leben gelenkt worden, in dem doch die Leistung dieses wunderbar komplizierten
Organismus gipfelt. Darum ist Ihnen eine psychologische Denkweise fremd geblieben, und Sie
haben sich gewöhnt, eine solche mißtrauisch zu betrachten, ihr den Charakter der
Wissenschaftlichkeit abzusprechen und sie den Laien, Dichtern, Naturphilosophen und Mystikern
zu überlassen. Diese Einschränkung ist gewiß ein Schaden für Ihre ärztliche Tätigkeit, denn der
Kranke wird Ihnen, wie es bei allen menschlichen Beziehungen Regel ist, zunächst seine
seelische Fassade entgegenbringen, und ich fürchte, Sie werden zur Strafe genötigt sein, einen
Anteil des therapeutischen Einflusses, den Sie anstreben, den von Ihnen so verachteten
Laienärzten, Naturheilkünstlern und Mystikern zu überlassen.
Ich verkenne nicht, welche Entschuldigung man für diesen Mangel Ihrer Vorbildung gelten
lassen muß. Es fehlt die philosophische Hilfswissenschaft, welche für Ihre ärztlichen Absichten
dienstbar gemacht werden könnte. Weder die spekulative Philosophie noch die deskriptive
Psychologie oder die an die Sinnesphysiologie anschließende sogenannte experimentelle
Psychologie, wie sie in den Schulen gelehrt werden, sind imstande, Ihnen über die Beziehung
zwischen dem Körperlichen und Seelischen etwas Brauchbares zu sagen und Ihnen die Schlüssel
zum Verständnis einer möglichen Störung der seelischen Funktionen in die Hand zu geben.
Innerhalb der Medizin beschäftigt sich zwar die Psychiatrie damit, die beobachteten
Seelenstörungen zu beschreiben und zu klinischen Krankheitsbildern zusammenzustellen, aber in
guten Stunden zweifeln die Psychiater selbst daran, ob ihre rein deskriptiven Aufstellungen den
Namen einer Wissenschaft verdienen. Die Symptome, welche diese Krankheitsbilder
zusammensetzen, sind nach ihrer Herkunft, ihrem Mechanismus und in ihrer gegenseitigen
Verknüpfung unerkannt; es entsprechen ihnen entweder keine nachweisbaren Veränderungen des
anatomischen Organs der Seele oder solche, aus denen sie eine Aufklärung nicht finden können.
Einer therapeutischen Beeinflussung sind diese Seelenstörungen nur dann zugänglich, wenn sie
sich als Nebenwirkungen einer sonstigen organischen Affektion erkennen lassen.
Hier ist die Lücke, welche die Psychoanalyse auszufüllen bestrebt ist. Sie will der Psychiatrie die
vermißte psychologische Grundlage geben, sie hofft, den gemeinsamen Boden aufzudecken, von
dem aus das Zusammentreffen körperlicher mit seelischer Störung verständlich wird. Zu diesem
Zweck muß sie sich von jeder ihr fremden Voraussetzung anatomischer, chemischer oder
physiologischer Natur frei halten, durchaus mit rein psychologischen Hilfsbegriffen arbeiten, und
gerade darum, fürchte ich, wird sie Ihnen zunächst fremdartig erscheinen.
An der nächsten Schwierigkeit will ich Sie, Ihre Vorbildung oder Einstellung, nicht mitschuldig
machen. Mit zweien ihrer Aufstellungen beleidigt die Psychoanalyse die ganze Welt und zieht
sich deren Abneigung zu; die eine davon verstößt gegen ein intellektuelles, die andere gegen ein
ästhetisch-moralisches Vorurteil. Lassen Sie uns nicht zu gering von diesen Vorurteilen denken;
es sind machtvolle Dinge, Niederschläge von nützlichen, ja notwendigen Entwicklungen der
Menschheit. Sie werden durch affektive Kräfte festgehalten, und der Kampf gegen sie ist ein
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin