Seite - 14 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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schwerer.
Die erste dieser unliebsamen Behauptungen der Psychoanalyse besagt, daß die seelischen
Vorgänge an und für sich unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des
ganzen Seelenlebens. Erinnern Sie sich, daß wir im Gegenteile gewöhnt sind, Psychisches und
Bewußtes zu identifizieren. Das Bewußtsein gilt uns geradezu als der definierende Charakter des
Psychischen, Psychologie als die Lehre von den Inhalten des Bewußtseins. Ja, so
selbstverständlich erscheint uns diese Gleichstellung, daß wir einen Widerspruch gegen sie als
offenkundigen Widersinn zu empfinden glauben, und doch kann die Psychoanalyse nicht umhin,
diesen Widerspruch zu erheben, sie kann die Identität von Bewußtem und Seelischem nicht
annehmen. Ihre Definition des Seelischen lautet, es seien Vorgänge von der Art des Fühlens,
Denkens, Wollens, und sie muß vertreten, daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen
gibt. Damit hat sie aber von vornherein die Sympathie aller Freunde nüchterner
Wissenschaftlichkeit verscherzt und sich in den Verdacht einer phantastischen Geheimlehre
gebracht, die im Dunkeln bauen, im Trüben fischen möchte. Sie aber, meine Hörer, können
natürlich noch nicht verstehen, mit welchem Recht ich einen Satz von so abstrakter Natur wie:
»Das Seelische ist das Bewußte« für ein Vorurteil ausgeben kann, können auch nicht erraten,
welche Entwicklung zur Verleugnung des Unbewußten geführt haben kann, wenn ein solches
existieren sollte, und welcher Vorteil sich bei dieser Verleugnung ergeben haben mag. Es klingt
wie ein leerer Wortstreit, ob man das Psychische mit dem Bewußten zusammenfallen lassen oder
es darüber hinaus erstrecken soll, und doch kann ich Ihnen versichern, daß mit der Annahme
unbewußter Seelenvorgänge eine entscheidende Neuorientierung in Welt und Wissenschaft
angebahnt ist.
Ebensowenig können Sie ahnen, ein wie inniger Zusammenhang diese erste Kühnheit der
Psychoanalyse mit der nun zu erwähnenden zweiten verknüpft. Dieser andere Satz, den die
Psychoanalyse als eines ihrer Ergebnisse verkündet, enthält nämlich die Behauptung, daß
Triebregungen, welche man nur als sexuelle im engeren wie im weiteren Sinn bezeichnen kann,
eine ungemein große und bisher nie genug gewürdigte Rolle in der Verursachung der Nerven-
und Geisteskrankheiten spielen. Ja noch mehr, daß dieselben sexuellen Regungen auch mit nicht
zu unterschätzenden Beiträgen an den höchsten kulturellen, künstlerischen und sozialen
Schöpfungen des Menschengeistes beteiligt sind.
Nach meiner Erfahrung ist die Abneigung gegen dieses Resultat der psychoanalytischen
Forschung die bedeutsamste Quelle des Widerstandes, auf den sie gestoßen ist. Wollen Sie
wissen, wie wir uns das erklären? Wir glauben, die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebensnot
auf Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden, und sie wird zum großen Teil immer
wieder von neuem erschaffen, indem der Einzelne, der neu in die menschliche Gemeinschaft
eintritt, die Opfer an Triebbefriedigung zu Gunsten des Ganzen wiederholt. Unter den so
verwendeten Triebkräften spielen die der Sexualregungen eine bedeutsame Rolle; sie werden
dabei sublimiert, d.
h. von ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höherstehende, nicht
mehr sexuelle, gerichtet. Dieser Aufbau ist aber labil, die Sexualtriebe sind schlecht gebändigt, es
besteht bei jedem Einzelnen, der sich dem Kulturwerk anschließen soll, die Gefahr, daß sich
seine Sexualtriebe dieser Verwendung weigern. Die Gesellschaft glaubt an keine stärkere
Bedrohung ihrer Kultur, als ihr durch die Befreiung der Sexualtriebe und deren Wiederkehr zu
ihren ursprünglichen Zielen erwachsen würde. Die Gesellschaft liebt es also nicht, an dieses
heikle Stück ihrer Begründung gemahnt zu werden, sie hat gar kein Interesse daran, daß die
Stärke der Sexualtriebe anerkannt und die Bedeutung des Sexuallebens für den einzelnen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin