Seite - 29 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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miteinander in Interferenz tretenden Tendenzen feststellt. Sie ahnen wahrscheinlich nicht, wie
folgenschwer sie ist. Nicht wahr, die eine der beiden, die gestörte Tendenz, ist immer
unzweifelhaft: die Person, welche die Fehlleistung begeht, kennt sie und bekennt sich zu ihr.
Anlaß zu Zweifeln und Bedenken kann nur die andere, die störende, geben. Nun, wir haben schon
gehört und Sie haben es gewiß nicht vergessen, daß in einer Reihe von Fällen diese andere
Tendenz ebenso deutlich ist. Sie wird durch den Effekt des Versprechens angezeigt, wenn wir nur
den Mut haben, diesen Effekt für sich gelten zu lassen. Der Präsident, der sich zum Gegenteil
verspricht – es ist klar, er will die Sitzung eröffnen, aber ebenso klar, er möchte sie auch
schließen. Das ist so deutlich, daß zum Deuten nichts übrig bleibt. Aber die anderen Fälle, in
denen die störende Tendenz die ursprüngliche nur entstellt, ohne sich selbst ganz zum Ausdruck
zu bringen, wie errät man bei ihnen die störende Tendenz aus der Entstellung?
In einer ersten Reihe von Fällen auf sehr einfache und sichere Weise, auf dieselbe Weise
nämlich, wie man die gestörte Tendenz feststellt. Diese läßt man sich ja vom Redner unmittelbar
mitteilen; nach dem Versprechen stellt er den ursprünglich beabsichtigten Wortlaut sofort wieder
her. »Das draut, nein, das dauert vielleicht noch einen Monat.« Nun, die entstellende Tendenz
läßt man gleichfalls von ihm aussprechen. Man fragt ihn: Ja, warum haben Sie denn zuerst
»draut« gesagt? Er antwortet: Ich wollte sagen: Das ist eine traurige Geschichte, und im anderen
Falle, beim Versprechen »Vorschwein«, bestätigt er Ihnen ebenso, daß er zuerst sagen wollte:
Das ist eine Schweinerei, sich aber dann mäßigte und in eine andere Aussage einlenkte. Die
Feststellung der entstellenden Tendenz ist hier also ebenso sicher gelungen wie die der
entstellten. Ich habe auch nicht ohne Absicht hier Beispiele herangezogen, deren Mitteilung und
Auflösung weder von mir noch von einem meiner Anhänger herrühren. Doch war in diesen
beiden Fällen ein gewisser Eingriff notwendig, um die Lösung zu fördern. Man mußte den
Redner fragen, warum er sich so versprochen habe, was er zu dem Versprechen zu sagen wisse.
Sonst wäre er vielleicht an seinem Versprechen vorbeigegangen, ohne es aufklären zu wollen.
Befragt, gab er aber die Erklärung mit dem ersten Einfall, der ihm kam. Und nun sehen Sie,
dieser kleine Eingriff und sein Erfolg, das ist bereits eine Psychoanalyse und das Vorbild jeder
psychoanalytischen Untersuchung, die wir im weiteren anstellen werden.
Bin ich nun zu mißtrauisch, wenn ich vermute, daß in demselben Moment, da die Psychoanalyse
vor Ihnen auftaucht, auch der Widerstand gegen sie bei Ihnen sein Haupt erhebt? Haben Sie nicht
Lust, mir einzuwenden, daß die Auskunft der befragten Person, die das Versprechen geleistet,
nicht völlig beweiskräftig sei? Er habe natürlich das Bestreben, meinen Sie, der Aufforderung zu
folgen, das Versprechen zu erklären, und da sage er eben das erste beste, was ihm einfalle, wenn
es ihm zu einer solchen Erklärung tauglich erscheine. Ein Beweis, daß das Versprechen wirklich
so zugegangen, sei damit nicht gegeben. Ja es könne so sein, aber ebensowohl auch anders. Es
hätte ihm auch etwas anderes einfallen können, was ebenso gut und vielleicht besser gepaßt hätte.
Es ist merkwürdig, wie wenig Respekt Sie im Grunde vor einer psychischen Tatsache haben!
Denken Sie sich, jemand habe die chemische Analyse einer gewissen Substanz vorgenommen
und von einem Bestandteil derselben ein gewisses Gewicht, so und soviel Milligramm,
gewonnen. Aus dieser Gewichtsmenge lassen sich bestimmte Schlüsse ziehen. Glauben Sie nun,
daß es je einem Chemiker einfallen wird, diese Schlüsse mit der Motivierung zu bemängeln: die
isolierte Substanz hätte auch ein anderes Gewicht haben können? Jeder beugt sich vor der
Tatsache, daß es eben dies Gewicht und kein anderes war, und baut auf ihr zuversichtlich seine
weiteren Schlüsse auf. Nur wenn die psychische Tatsache vorliegt, daß dem Befragten ein
bestimmter Einfall gekommen ist, dann lassen Sie das nicht gelten und sagen, es hätte ihm auch
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin