Seite - 30 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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etwas anderes einfallen können! Sie haben eben die Illusion einer psychischen Freiheit in sich
und mögen auf sie nicht verzichten. Es tut mir leid, daß ich mich hierin in schärfstem
Widerspruch zu Ihnen befinde.
Nun werden Sie hier abbrechen, aber nur um den Widerstand an einer anderen Stelle
wiederaufzunehmen. Sie fahren fort: Wir verstehen, daß es die besondere Technik der
Psychoanalyse ist, sich die Lösung ihrer Probleme von den Analysierten selbst sagen zu lassen.
Nun nehmen wir ein anderes Beispiel her, jenes, in dem der Festredner die Versammlung
auffordert, auf das Wohl des Chefs aufzustoßen. Sie sagen, die störende Intention ist in diesem
Falle die der Schmähung: sie ist es, die sich dem Ausdruck der Verehrung widersetzt. Aber das
ist bloße Deutung von Ihrer Seite, gestützt auf Beobachtungen außerhalb des Versprechens.
Wenn Sie in diesem Falle den Urheber des Versprechens befragen, wird er Ihnen nicht
bestätigen, daß er eine Schmähung beabsichtigte; er wird es vielmehr energisch in Abrede stellen.
Warum geben Sie Ihre unbeweisbare Deutung nicht gegen diesen klaren Einspruch auf?
Ja, diesmal haben Sie etwas Starkes herausgefunden. Ich stelle mir den unbekannten Festredner
vor; er ist wahrscheinlich ein Assistent des gefeierten Chefs, vielleicht schon Privatdozent, ein
junger Mann mit den besten Lebenschancen. Ich will in ihn drängen, ob er nicht doch etwas
verspürt hat, was sich der Aufforderung zur Verehrung des Chefs widersetzt haben mag. Da
komme ich aber schön an. Er wird ungeduldig und fährt plötzlich auf mich los: »Sie, jetzt hören’s
einmal auf mit Ihrer Ausfragerei, sonst werd’ ich ungemütlich. Sie verderben mir noch die ganze
Karriere durch Ihre Verdächtigungen. Ich hab’ einfach aufstoßen anstatt anstoßen gesagt, weil ich
im selben Satz schon zweimal vorher auf ausgesprochen habe. Das ist das, was der Meringer
einen Nachklang heißt, und weiter ist daran nichts zu deuteln. Verstehen Sie mich? Basta.« Hm,
das ist eine überraschende Reaktion, eine wirklich energische Ablehnung. Ich sehe, bei dem
jungen Mann ist nichts auszurichten, denke mir aber auch, er verrät ein starkes persönliches
Interesse daran, daß seine Fehlleistung keinen Sinn haben soll. Sie werden vielleicht auch finden,
es ist nicht recht, daß er gleich so grob wird bei einer rein theoretischen Untersuchung, aber
schließlich, werden Sie meinen, muß er doch eigentlich wissen, was er sagen wollte und was
nicht. So, muß er das? Das wäre vielleicht noch die Frage.
Jetzt glauben Sie mich aber in der Hand zu haben. Das ist also Ihre Technik, höre ich Sie sagen.
Wenn der Betreffende, der ein Versprechen von sich gegeben hat, etwas dazu sagt, was Ihnen
paßt, dann erklären Sie ihn für die letzte entscheidende Autorität darüber. »Er sagt es ja selbst!«
Wenn Ihnen aber das, was er sagt, nicht in Ihren Kram paßt, dann behaupten Sie auf einmal, der
gilt nichts, dem braucht man nicht zu glauben.
Das stimmt allerdings. Ich kann Ihnen aber einen ähnlichen Fall vorstellen, in dem es ebenso
ungeheuerlich zugeht. Wenn ein Angeklagter vor dem Richter sich zu seiner Tat bekennt, so
glaubt der Richter dem Geständnis; wenn er aber leugnet, so glaubt ihm der Richter nicht. Wäre
es anders, so gäbe es keine Rechtspflege, und trotz gelegentlicher Irrtümer müssen Sie dieses
System doch wohl gelten lassen.
Ja, sind Sie denn der Richter, und der, welcher ein Versprechen begangen hat, ein vor Ihnen
Angeklagter? Ist denn ein Versprechen ein Vergehen?
Vielleicht brauchen wir selbst diesen Vergleich nicht abzulehnen. Aber sehen Sie nur, zu
welchen tiefgreifenden Differenzen wir bei einiger Vertiefung in die scheinbar so harmlosen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin