Seite - 43 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 43 -
Text der Seite - 43 -
aber seiner Verwendung als Geständnis steht etwas sehr Gewichtiges im Wege. So einfach ist die
Sache nicht. Das Verschreiben ist sicherlich ein Indizium, aber für sich allein hätte es zur
Einleitung einer Untersuchung nicht hingereicht. Daß der Mann von dem Gedanken beschäftigt
ist, Menschen zu infizieren, das sagt das Verschreiben allerdings, aber es läßt nicht entscheiden,
ob dieser Gedanke den Wert eines klaren schädlichen Vorsatzes oder den einer praktisch
belanglosen Phantasie hat. Es ist sogar möglich, daß der Mensch, der sich so verschrieben hat,
mit der besten subjektiven Berechtigung diese Phantasie verleugnen und sie als etwas ihm
gänzlich Fremdes von sich weisen wird. Wenn wir später den Unterschied zwischen psychischer
und materieller Realität ins Auge fassen, werden Sie diese Möglichkeiten noch besser verstehen
können. Es ist dies aber wieder ein Fall, in dem eine Fehlleistung nachträglich zu ungeahnter
Bedeutung gekommen ist.
Beim Verlesen treffen wir auf eine psychische Situation, die sich von der des Versprechens und
Verschreibens deutlich unterscheidet. Die eine der beiden miteinander konkurrierenden
Tendenzen ist hier durch eine sensorische Anregung ersetzt und vielleicht darum weniger
resistent. Was man zu lesen hat, ist ja nicht eine Produktion des eigenen Seelenlebens wie etwas,
was man zu schreiben vorhat. In einer großen Mehrzahl besteht daher das Verlesen in einer
vollen Substitution. Man ersetzt das zu lesende Wort durch ein anderes, ohne daß eine inhaltliche
Beziehung zwischen dem Text und dem Effekt des Verlesens zu bestehen braucht, in der Regel in
Anlehnung an eine Wortähnlichkeit. Lichtenbergs Beispiel: Agamemnon anstatt angenommen ist
das beste dieser Gruppe. Will man die störende, das Verlesen erzeugende Tendenz kennenlernen,
so darf man den verlesenen Text ganz beiseite lassen und kann die analytische Untersuchung mit
den beiden Fragen einleiten, welcher Einfall sich als der nächste zum Effekt des Verlesens ergibt
und in welcher Situation das Verlesen vorgefallen ist. Mitunter reicht die Kenntnis der letzteren
für sich allein zur Aufklärung des Verlesens hin, z.
B. wenn jemand in gewissen Nöten in einer
ihm fremden Stadt herumwandert und auf einer großen Tafel eines ersten Stockes das Wort
Klosetthaus liest. Er hat gerade noch Zeit, sich darüber zu verwundern, daß die Tafel so hoch
angebracht ist, ehe er entdeckt, daß dort streng genommen Korsetthaus zu lesen steht. In anderen
Fällen bedarf gerade das vom Inhalt des Textes unabhängige Verlesen einer eingehenden
Analyse, die ohne Übung in der psychoanalytischen Technik und ohne Zutrauen zu ihr nicht
durchzuführen ist. Meist ist es aber leichter, sich die Aufklärung eines Verlesens zu schaffen. Das
substituierte Wort verrät nach dem Beispiel Agamemnon ohne weiteres den Gedankenkreis, aus
welchem die Störung hervorgeht. In diesen Kriegszeiten ist es z.
B. sehr gewöhnlich, daß man die
Namen der Städte und Heerführer und die militärischen Ausdrücke, die einen beständig
umschwirren, überall hineinliest, wo einem ein ähnliches Wortbild entgegenkommt. Was einen
interessiert und beschäftigt, das setzt sich so an Stelle des Fremden und noch Uninteressanten.
Die Nachbilder der Gedanken trüben die neue Wahrnehmung.
Es fehlt auch beim Verlesen nicht an Fällen von anderer Art, in denen der Text des Gelesenen
selbst die störende Tendenz erweckt, durch welche er dann meist in sein Gegenteil verwandelt
wird. Man sollte etwas Unerwünschtes lesen und überzeugt sich durch die Analyse, daß ein
intensiver Wunsch zur Ablehnung des Gelesenen für dessen Abänderung verantwortlich zu
machen ist.
Bei den ersterwähnten häufigeren Fällen des Verlesens kommen zwei Momente zu kurz, denen
wir im Mechanismus der Fehlleistungen eine wichtige Rolle zugeteilt haben: der Konflikt zweier
Tendenzen und die Zurückdrängung der einen, die sich durch den Effekt der Fehlleistung
entschädigt. Nicht daß beim Verlesen etwas dem Gegensätzliches aufzufinden wäre, aber die
43
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin