Seite - 45 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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was psychologisch gleichwertig ist, kann praktisch doch recht vieldeutig sein.
Phänomene wie diese werden Ihnen sehr ungewöhnlich erscheinen. Vielleicht sind Sie geneigt
anzunehmen, daß der »indirekte« Gegenwille den Vorgang als einen bereits pathologischen
charakterisiert. Ich kann Ihnen aber versichern, daß er auch im Rahmen der Norm und der
Gesundheit vorkommt. Mißverstehen Sie mich übrigens nicht. Ich will keineswegs selbst die
Unzuverlässigkeit unserer analytischen Deutungen zugestehen. Die besprochene Vieldeutigkeit
des Vorsatzvergessens besteht ja nur, solange wir keine Analyse des Falles vorgenommen haben
und nur auf Grund unserer allgemeinen Voraussetzungen deuten. Wenn wir die Analyse mit der
betreffenden Person ausführen, erfahren wir jedesmal mit genügender Sicherheit, ob es ein
direkter Gegenwille ist oder woher er sonst rührt.
Ein zweiter Punkt ist der folgende: Wenn wir in einer Überzahl von Fällen bestätigt finden, daß
das Vergessen eines Vorsatzes auf einen Gegenwillen zurückgeht, so bekommen wir Mut, diese
Lösung auch auf eine andere Reihe von Fällen auszudehnen, in denen die analysierte Person den
von uns erschlossenen Gegenwillen nicht bestätigt, sondern verleugnet. Nehmen Sie als Beispiele
hierfür die überaus häufigen Vorkommnisse, daß man vergißt, Bücher, die man entlehnt hat,
zurückzustellen, Rechnungen oder Schulden zu bezahlen. Wir werden so kühn sein, dem
Betreffenden vorzuhalten, daß bei ihm die Absicht besteht, die Bücher zu behalten und die
Schulden nicht zu bezahlen, während er diese Absicht leugnen, aber nicht imstande sein wird, uns
für sein Benehmen eine andere Erklärung zu geben. Daraufhin setzen wir fort, er habe die
Absicht, nur wisse er nichts von ihr; es genüge uns aber, daß sie sich durch den Effekt des
Vergessens bei ihm verrate. Jener kann uns wiederholen, er habe eben vergessen. Sie erkennen
jetzt die Situation als eine, in welcher wir uns bereits früher einmal befunden haben. Wenn wir
unsere so vielfältig als berechtigt erwiesenen Deutungen der Fehlleistungen konsequent
fortführen wollen, werden wir unausweichlich zu der Annahme gedrängt, daß es Tendenzen beim
Menschen gibt, welche wirksam werden können, ohne daß er von ihnen weiß. Damit setzen wir
uns aber in Widerspruch zu allen das Leben und die Psychologie beherrschenden Anschauungen.
Das Vergessen von Eigen- und Fremdnamen sowie Fremdworten läßt sich in gleicher Weise auf
eine Gegenabsicht zurückführen, welche sich entweder direkt oder indirekt gegen den
betreffenden Namen richtet. Von solcher direkter Abneigung habe ich Ihnen bereits früher einmal
mehrere Beispiele vorgeführt. Die indirekte Verursachung ist aber hier besonders häufig und
erfordert meist sorgfältige Analysen zu ihrer Feststellung. So z. B. hat in dieser Kriegszeit, die
uns gezwungen hat, so viele unserer früheren Neigungen aufzugeben, auch die Verfügung über
das Erinnern von Eigennamen infolge der sonderbarsten Verknüpfungen sehr gelitten. Vor
kurzem ist es mir geschehen, daß ich den Namen der harmlosen mährischen Stadt Bisenz nicht
reproduzieren konnte, und die Analyse ergab, daß keine direkte Verfeindung Schuld daran trug,
sondern der Anklang an den Namen des Palazzo Bisenzi in Orvieto, in dem ich sonst zu
wiederholten Malen gerne gewohnt hatte. Als Motiv der gegen dies Namenerinnern gerichteten
Tendenz tritt uns hier zum erstenmal ein Prinzip entgegen, welches uns später seine ganze
großartige Bedeutung für die Verursachung neurotischer Symptome enthüllen wird: die
Abneigung des Gedächtnisses, etwas zu erinnern, was mit Unlustempfindungen verknüpft war
und bei der Reproduktion diese Unlust erneuern würde. Diese Absicht zur Vermeidung von
Unlust aus der Erinnerung oder anderen psychischen Akten, die psychische Flucht vor der
Unlust, dürfen wir als das letzte wirksame Motiv nicht nur fürs Namenvergessen, sondern auch
für viele andere Fehlleistungen, wie Unterlassungen, Irrtümer u.
a. anerkennen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin