Seite - 46 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Das Namenvergessen scheint aber psycho-physiologisch besonders erleichtert zu sein und stellt
sich daher auch in Fällen ein, welche die Einmengung eines Unlustmotivs nicht bestätigen lassen.
Wenn einer einmal zum Namenvergessen neigt, so können Sie bei ihm durch analytische
Untersuchung feststellen, daß ihm nicht nur darum Namen entfallen, weil er sie selbst nicht mag
oder weil sie ihn an Unliebsames mahnen, sondern auch darum, weil derselbe Name bei ihm
einem anderen Assoziationskreis angehört, zu dem er innigere Beziehungen hat. Der Name wird
dort gleichsam festgehalten und den anderen momentan aktivierten Assoziationen verweigert.
Wenn Sie sich an die Kunststücke der Mnemotechnik erinnern, so werden Sie mit einigem
Befremden feststellen, daß man Namen infolge derselben Zusammenhänge vergißt, die man sonst
absichtlich herstellt, um sie vor dem Vergessen zu schützen. Das auffälligste Beispiel hierfür
geben Eigennamen von Personen, die begreiflicherweise für verschiedene Leute ganz
verschiedene psychische Wertigkeit besitzen müssen. Nehmen Sie z.
B. einen Vornamen wie
Theodor. Dem einen von Ihnen wird er nichts Besonderes bedeuten; für den anderen ist es der
Name seines Vaters, Bruders, Freundes oder der eigene. Die analytische Erfahrung wird Ihnen
dann zeigen, daß der erstere nicht in Gefahr ist zu vergessen, daß eine gewisse fremde Person
diesen Namen führt, während die anderen beständig geneigt sein werden, dem Fremden einen
Namen vorzuenthalten, der ihnen für intime Beziehungen reserviert erscheint. Nehmen Sie nun
an, daß diese assoziative Hemmung mit der Wirkung des Unlustprinzips und überdies mit einem
indirekten Mechanismus zusammentreffen kann, so werden Sie erst imstande sein, sich von der
Komplikation der Verursachung des zeitweiligen Namenvergessens eine zutreffende Vorstellung
zu machen. Eine sachgerechte Analyse deckt Ihnen aber alle diese Verwicklungen restlos auf.
Das Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen zeigt die Wirkung der Tendenz, Unangenehmes
von der Erinnerung fernzuhalten, noch viel deutlicher und ausschließlicher als das
Namenvergessen. Es gehört natürlich nicht in seinem vollen Umfang zu den Fehlleistungen,
sondern nur insoferne es uns, am Maßstabe unserer gewohnten Erfahrung gemessen, auffällig
und unberechtigt erscheint, also z.
B. wenn das Vergessen zu frische oder zu wichtige Eindrücke
betrifft oder solche, deren Ausfall eine Lücke in einen sonst gut erinnerten Zusammenhang reißt.
Warum und wieso wir überhaupt vergessen können, darunter Erlebnisse, welche uns gewiß den
tiefsten Eindruck hinterlassen haben, wie die Ereignisse unserer ersten Kindheitsjahre, das ist ein
ganz anderes Problem, bei welchem die Abwehr gegen Unlustregungen eine gewisse Rolle spielt,
aber lange nicht alles erklärt. Daß unangenehme Eindrücke leicht vergessen werden, ist eine nicht
zu bezweifelnde Tatsache. Verschiedene Psychologen haben sie bemerkt, und der große Darwin
empfing einen so starken Eindruck von ihr, daß er sich die »goldene Regel« aufstellte,
Beobachtungen, welche seiner Theorie ungünstig schienen, mit besonderer Sorgfalt zu notieren,
da er sich überzeugt hatte, daß gerade sie in seinem Gedächtnisse nicht haften wollten.
Wer von diesem Prinzip der Abwehr gegen die Erinnerungsunlust durch das Vergessen zuerst
hört, versäumt selten den Einwand zu erheben, daß er vielmehr die Erfahrung gemacht hat, daß
gerade Peinliches schwer zu vergessen ist, indem es gegen den Willen der Person immer
wiederkehrt, um sie zu quälen, z. B. die Erinnerung an Kränkungen und Demütigungen. Auch
diese Tatsache ist richtig, aber der Einwand trifft nicht zu. Es ist wichtig, daß man rechtzeitig
beginne mit der Tatsache zu rechnen, das Seelenleben sei ein Kampf- und Tummelplatz
entgegengesetzter Tendenzen, oder nicht dynamisch ausgedrückt, es bestehe aus Widersprüchen
und Gegensatzpaaren. Der Nachweis einer bestimmten Tendenz leistet nichts für den Ausschluß
einer ihr gegensätzlichen; es ist Raum für beide vorhanden. Es kommt nur darauf an, wie sich die
Gegensätze zueinander stellen, welche Wirkungen von dem einen und welche von dem anderen
ausgehen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin