Seite - 51 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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auch in kleinen Anzeichen äußern. Was die Unbestimmtheit des Traumes betrifft, so ist sie eben
ein Charakter wie ein anderer; man kann den Dingen ihren Charakter nicht vorschreiben. Es gibt
übrigens auch klare und bestimmte Träume. Es gibt auch andere Objekte der psychiatrischen
Forschung, die an demselben Charakter der Unbestimmtheit leiden, z.
B. in vielen Fällen die
Zwangsvorstellungen, mit denen sich doch respektable, angesehene Psychiater beschäftigt haben.
Ich will mich an den letzten Fall erinnern, der in meiner ärztlichen Tätigkeit vorgekommen ist.
Die Kranke stellte sich mir mit den Worten vor: Ich habe ein gewisses Gefühl, als ob ich ein
lebendes Wesen – ein Kind? – doch nicht, eher einen Hund – beschädigt hätte oder beschädigen
gewollt hätte, vielleicht es von einer Brücke heruntergestoßen – oder etwas anderes. Dem
Schaden der unsicheren Erinnerung an den Traum können wir abhelfen, wenn wir festsetzen,
eben das, was der Träumer erzählt, habe als sein Traum zu gelten, ohne Rücksicht auf alles, was
er vergessen oder in der Erinnerung verändert haben mag. Endlich kann man nicht einmal so
allgemein behaupten, daß der Traum etwas Unwichtiges sei. Es ist uns aus eigener Erfahrung
bekannt, daß die Stimmung, in der man aus einem Traum erwacht, sich über den ganzen Tag
fortsetzen kann; es sind Fälle von den Ärzten beobachtet worden, in denen eine Geisteskrankheit
mit einem Traum beginnt und eine aus diesem Traum stammende Wahnidee festhält; es wird von
historischen Personen berichtet, daß sie die Anregung zu wichtigen Taten aus Träumen geschöpft
haben. Wir werden darum fragen, woher kommt eigentlich die Verachtung der
wissenschaftlichen Kreise für den Traum ? Ich meine, sie ist die Reaktion auf die Überschätzung
früherer Zeiten. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist bekanntlich nicht leicht, aber dies
dürfen wir mit Sicherheit annehmen – gestatten Sie mir den Scherz –, daß bereits unsere
Vorfahren vor 3000 Jahren und mehr in ähnlicher Weise wie wir geträumt haben. Soviel wir
wissen, haben die alten Völker alle den Träumen große Bedeutung beigelegt und sie für praktisch
verwertbar gehalten. Sie haben ihnen Anzeichen für die Zukunft entnommen, Vorbedeutungen in
ihnen gesucht. Für die Griechen und andere Orientalen mag zuzeiten ein Feldzug ohne
Traumdeuter so unmöglich gewesen sein wie heutzutage ohne Fliegeraufklärer. Als Alexander
der Große seinen Eroberungszug unternahm, befanden sich die berühmtesten Traumdeuter in
seinem Gefolge. Die Stadt Tyrus, die damals noch auf einer Insel lag, leistete dem König so
heftigen Widerstand, daß er sich mit dem Gedanken trug, ihre Belagerung aufzugeben. Da
träumte er eines Nachts einen wie im Triumph tanzenden Satyrn, und als er diesen Traum seinen
Traumdeutern vortrug, erhielt er den Bescheid, es sei ihm der Sieg über die Stadt verkündet
worden. Er befahl den Angriff und nahm Tyrus ein. Bei Etruskern und Römern waren andere
Methoden zur Erkundung der Zukunft in Gebrauch, aber die Traumdeutung wurde während der
ganzen hellenistisch-römischen Zeit gepflegt und hochgehalten. Von der damit beschäftigten
Literatur ist uns wenigstens das Hauptwerk erhalten, das Buch des Artemidoros aus Daldis, den
man in die Lebenszeit des Kaisers Hadrian versetzt. Wie es dann kam, daß die Kunst der
Traumdeutung verfiel und der Traum in Mißkredit geriet, weiß ich Ihnen nicht zu sagen. Die
Aufklärung kann nicht viel Anteil daran gehabt haben, denn das dunkle Mittelalter hat weit
absurdere Dinge als die antike Traumdeutung getreu bewahrt. Tatsache ist es, daß das Interesse
am Traum allmählich zum Aberglauben herabsank und sich nur bei den Ungebildeten behaupten
konnte. Der letzte Mißbrauch der Traumdeutung noch in unseren Tagen sucht aus den Träumen
die Zahlen zu erfahren, die zur Ziehung im kleinen Lotto prädestiniert sind. Dagegen hat die
exakte Wissenschaft der Jetztzeit sich wiederholt mit dem Traume beschäftigt, aber immer nur in
der Absicht, ihre physiologischen Theorien auf ihn anzuwenden. Den Ärzten galt der Traum
natürlich als ein nicht psychischer Akt, als die Äußerung somatischer Reize im Seelenleben. Binz
erklärt 1878 den Traum »für einen körperlichen, in allen Fällen unnützen, in vielen Fällen
geradezu krankhaften Vorgang, über welchem Weltseele und Unsterblichkeit so hoch erhaben
stehen, wie der blaue Äther über einer unkrautbewachsenen Sandfläche in tiefster Niederung«.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin