Seite - 60 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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6. Vorlesung
Voraussetzungen und Technik der Deutung
Meine Damen und Herren! Also wir bedürfen eines neuen Weges, einer Methode, um in der
Erforschung des Traumes von der Stelle zu kommen. Ich mache Ihnen nun einen naheliegenden
Vorschlag. Nehmen wir als Voraussetzung für alles Weitere an, daß der Traum kein somatisches,
sondern ein psychisches Phänomen ist. Was das bedeutet, wissen Sie, aber was berechtigt uns zu
dieser Annahme? Nichts, aber wir sind auch nicht gehindert, sie zu machen. Die Sache liegt so:
Wenn der Traum ein somatisches Phänomen ist, geht er uns nichts an; er kann uns nur unter der
Voraussetzung, daß er ein seelisches Phänomen ist, interessieren. Wir arbeiten also unter der
Voraussetzung, er sei es wirklich, um zu sehen, was dabei herauskommt. Das Ergebnis unserer
Arbeit wird darüber entscheiden, ob wir an der Annahme festhalten und sie nun ihrerseits als ein
Resultat vertreten dürfen. Was wollen wir denn eigentlich erreichen, wozu arbeiten wir? Wir
wollen, was man in der Wissenschaft überhaupt anstrebt, ein Verständnis der Phänomene, die
Herstellung eines Zusammenhanges zwischen ihnen, und in letzter Ferne, wo es möglich ist, eine
Erweiterung unserer Macht über sie.
Wir setzen also die Arbeit unter der Annahme fort, daß der Traum ein psychisches Phänomen ist.
Dann ist er eine Leistung und Äußerung des Träumers, aber eine solche, die uns nichts sagt, die
wir nicht verstehen. Was tun Sie nun in dem Falle, daß ich eine Ihnen unverständliche Äußerung
von mir gebe? Mich fragen, nicht wahr? Warum sollen wir nicht dasselbe tun dürfen, den
Träumer befragen, was sein Traum bedeutet? Erinnern Sie sich, wir befanden uns schon einmal
in dieser Situation. Es war bei der Untersuchung gewisser Fehlleistungen, eines Falles von
Versprechen. Jemand hatte gesagt: Da sind Dinge zum Vorschwein gekommen, und darauf
fragten wir – nein, zum Glück nicht wir, sondern andere, die der Psychoanalyse ganz fernstehen,
da fragten ihn diese anderen, was er mit dieser unverständlichen Rede wolle. Er antwortete sofort,
daß er die Absicht gehabt hatte zu sagen: das waren Schweinereien, daß er aber diese Absicht
zurückgedrängt gegen die andere, gemilderte: da sind Dinge zum Vorschein gekommen. Ich
erklärte Ihnen schon damals, diese Erkundigung sei das Vorbild jeder psychoanalytischen
Untersuchung, und Sie verstehen jetzt, daß die Psychoanalyse die Technik befolgt, sich soweit es
nur angeht die Lösung ihrer Rätsel von den Untersuchten selbst sagen zu lassen. So soll uns auch
der Träumer selbst sagen, was sein Traum bedeutet.
Aber so einfach geht das bekanntlich beim Traum nicht. Bei den Fehlleistungen ging es in einer
Anzahl von Fällen; dann kamen wir zu anderen, in denen der Befragte nichts sagen wollte, ja
sogar die Antwort, die wir ihm nahelegten, entrüstet zurückwies. Beim Traum fehlen uns die
Fälle der ersten Art völlig; der Träumer sagt immer, er weiß nichts. Zurückweisen kann er unsere
Deutung nicht, da wir ihm keine vorzulegen haben. So sollten wir also unseren Versuch wieder
aufgeben? Da er nichts weiß und wir nichts wissen und ein Dritter erst recht nichts wissen kann,
gibt’s wohl keine Aussicht, es zu erfahren. Ja, wenn Sie wollen, geben Sie den Versuch auf.
Wenn Sie aber anders wollen, so können Sie den Weg mit mir fortsetzen. Ich sage Ihnen nämlich,
es ist doch sehr wohl möglich, ja sehr wahrscheinlich, daß der Träumer es doch weiß, was sein
Traum bedeutet, nur weiß er nicht, daß er es weiß, und glaubt darum, daß er es nicht weiß.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin