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9. Vorlesung
Die Traumzensur
Meine Damen und Herren! Entstehung, Wesen und Funktion des Traumes haben wir aus dem
Studium der Kinderträume kennengelernt. Die Träume sind Beseitigungen schlafstörender
(psychischer) Reize auf dem Wege der halluzinierten Befriedigung. Von den Träumen der
Erwachsenen haben wir allerdings nur eine Gruppe aufklären können, jene, die wir als Träume
von infantilem Typus bezeichnet haben. Was es mit den anderen ist, wissen wir noch nicht, aber
wir verstehen sie auch nicht. Wir haben vorläufig ein Resultat gewonnen, dessen Bedeutung wir
nicht unterschätzen wollen. Jedesmal, wenn uns ein Traum voll verständlich ist, erweist er sich
als eine halluzinierte Wunscherfüllung. Dies Zusammentreffen kann nicht zufällig und nicht
gleichgültig sein. Von einem Traum anderer Art nehmen wir auf Grund verschiedener
Überlegungen und in Analogie zur Auffassung der Fehlleistungen an, daß er ein entstellter Ersatz
für einen unbekannten Inhalt ist und erst auf diesen zurückgeführt werden muß. Die
Untersuchung, das Verständnis dieser Traumentstellung ist nun unsere nächste Aufgabe.
Die Traumentstellung ist dasjenige, was uns den Traum fremdartig und unverständlich erscheinen
läßt. Wir wollen mehrerlei von ihr wissen: erstens, wovon sie herrührt, ihren Dynamismus,
zweitens, was sie macht, und endlich, wie sie es macht. Wir können auch sagen, die
Traumentstellung ist das Werk der Traumarbeit. Wir wollen die Traumarbeit beschreiben und auf
die in ihr wirkenden Kräfte zurückführen. Und nun hören Sie folgenden Traum an. Er ist von
einer Dame unseres Kreises[9] verzeichnet worden, stammt nach ihrer Auskunft von einer
hochangesehenen, feingebildeten älteren Dame her. Eine Analyse dieses Traumes ist nicht
angestellt worden. Unsere Referentin bemerkt, daß es für Psychoanalytiker keiner Deutung
bedürfe. Die Träumerin selbst hat ihn auch nicht gedeutet, aber sie hat ihn beurteilt und so
verurteilt, als ob sie ihn zu deuten verstünde. Denn sie äußerte über ihn: Und solches
abscheuliche, dumme Zeug träumt einer Frau von 50 Jahren, die Tag und Nacht keinen anderen
Gedanken hat als die Sorge um ihr Kind!
Und nun der Traum von den »Liebesdiensten«. »Sie geht ins Garnisonsspital Nr. 1 und sagt dem
Posten beim Tor, sie müsse den Oberarzt … (sie nennt einen ihr unbekannten Namen) sprechen,
da sie im Spitale Dienst tun wolle. Dabei betont sie das Wort ›Dienst‹ so, daß der Unteroffizier
sofort merkt, es handle sich um ›Liebes‹dienste. Da sie eine alte Frau ist, läßt er sie nach einigem
Zögern passieren. Statt aber zum Oberarzt zu kommen, gelangt sie in ein großes, düsteres
Zimmer, in dem viele Offiziere und Militärärzte an einem langen Tisch stehen und sitzen. Sie
wendet sich mit ihrem Antrag an einen Stabsarzt, der sie nach wenigen Worten schon versteht.
Der Wortlaut ihrer Rede im Traum ist: ›Ich und zahlreiche andere Frauen und junge Mädchen
Wiens sind bereit, den Soldaten, Mannschaft und Offiziere ohne Unterschied,…‹ Hier folgt im
Traum ein Gemurmel. Daß dasselbe aber von allen Anwesenden richtig verstanden wird, zeigen
ihr die teils verlegenen, teils hämischen Mienen der Offiziere. Die Dame fährt fort: ›Ich weiß,
daß unser Entschluß befremdend klingt, aber es ist uns bitterernst. Der Soldat im Feld wird auch
nicht gefragt, ob er sterben will oder nicht.‹ Ein minutenlanges peinliches Schweigen folgt. Der
Stabsarzt legt ihr den Arm um die Mitte und sagt: ›Gnädige Frau, nehmen Sie den Fall, es würde
tatsächlich dazu kommen,…‹ (Gemurmel). Sie entzieht sich seinem Arm mit dem Gedanken: Es ist
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin