Seite - 86 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Rache- und Todeswünsche gegen die nächststehenden, im Leben geliebtesten Personen, die
Eltern, Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind nichts Ungewöhnliches. Diese
zensurierten Wünsche scheinen aus einer wahren Hölle aufzusteigen; keine Zensur scheint uns
nach der Deutung im Wachen hart genug gegen sie zu sein.
Machen Sie aber aus diesem bösen Inhalt dem Traum selbst keinen Vorwurf. Sie vergessen doch
nicht, daß er die harmlose, ja nützliche Funktion hat, den Schlaf vor Störung zu bewahren. Solche
Schlechtigkeit liegt nicht im Wesen des Traumes. Sie wissen ja auch, daß es Träume gibt, die
sich als Befriedigung berechtigter Wünsche und dringender körperlicher Bedürfnisse erkennen
lassen. Diese haben allerdings keine Traumentstellung; sie brauchen sie aber auch nicht, sie
können ihrer Funktion genügen, ohne die ethischen und ästhetischen Tendenzen des Ichs zu
beleidigen. Auch halten Sie sich vor, daß die Traumentstellung zwei Faktoren proportional ist.
Einerseits wird sie um so größer, je ärger der zu zensurierende Wunsch ist, anderseits aber auch,
je strenger derzeit die Anforderungen der Zensur auftreten. Ein junges, strenge erzogenes und
sprödes Mädchen wird darum mit unerbittlicher Zensur Traumregungen entstellen, welche wir
Ärzte z.
B. als gestattete, harmlos libidinöse Wünsche anerkennen müßten und die die Träumerin
selbst ein Dezennium später so beurteilen wird.
Im übrigen sind wir noch lange nicht so weit, uns über dies Ergebnis unserer Deutungsarbeit
entrüsten zu dürfen. Ich glaube, daß wir es noch nicht recht verstehen; vor allem aber obliegt uns
die Aufgabe, es gegen gewisse Anfechtungen sicherzustellen. Es ist gar nicht schwer, einen
Haken daran zu finden. Unsere Traumdeutungen sind unter den Voraussetzungen gemacht, die
wir vorhin einbekannt haben, daß der Traum überhaupt einen Sinn habe, daß man die Existenz
derzeit unbewußter seelischer Vorgänge vom hypnotischen auf den normalen Schlaf übertragen
dürfe und daß alle Einfälle determiniert seien. Wären wir auf Grund dieser Voraussetzungen zu
plausiblen Resultaten der Traumdeutung gekommen, so hätten wir mit Recht geschlossen, diese
Voraussetzungen seien richtig gewesen. Wie aber, wenn diese Ergebnisse so aussehen, wie ich es
eben geschildert habe? Dann liegt es doch nahe zu sagen: Es sind unmögliche, unsinnige, zum
mindesten sehr unwahrscheinliche Resultate, also war etwas an den Voraussetzungen falsch.
Entweder ist der Traum doch kein psychisches Phänomen, oder es gibt nichts Unbewußtes im
Normalzustand, oder unsere Technik hat irgendwo ein Leck. Ist das nicht einfacher und
befriedigender anzunehmen als alle die Scheußlichkeiten, die wir auf Grund unserer
Voraussetzungen angeblich aufgedeckt haben?
Beides! Sowohl einfacher als auch befriedigender, aber darum nicht notwendig richtiger. Lassen
wir uns Zeit, die Sache ist noch nicht spruchreif. Vor allem können wir die Kritik gegen unsere
Traumdeutungen noch verstärken. Daß die Ergebnisse derselben so unerfreulich und
unappetitlich sind, fiele vielleicht nicht so schwer ins Gewicht. Ein stärkeres Argument ist es, daß
die Träumer, denen wir aus der Deutung ihrer Träume solche Wunschtendenzen zuschieben,
diese aufs nachdrücklichste und mit guten Gründen von sich weisen. Was? sagt der eine, Sie
wollen mir aus dem Traume nachweisen, daß es mir leid um die Summen tut, die ich für die
Ausstattung meiner Schwester und die Erziehung meines Bruders aufgewendet habe? Aber das
kann ja nicht sein; ich arbeite ja nur für meine Geschwister, ich habe kein anderes Interesse im
Leben, als meine Pflichten gegen sie zu erfüllen, wie ich es als Ältester unserer seligen Mutter
versprochen habe. Oder eine Träumerin sagt: Ich soll meinem Manne den Tod wünschen. Das ist
ja ein empörender Unsinn! Nicht nur, daß wir in der glücklichsten Ehe leben – das werden Sie
mir wahrscheinlich nicht glauben –, sein Tod würde mich auch um alles bringen, was ich sonst in
der Welt besitze. Oder ein anderer wird uns erwidern: Ich soll sinnliche Wünsche auf meine
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin