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Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Seite - 87 -
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Seite - 87 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)

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Schwester richten? Das ist lächerlich; ich mache mir gar nichts aus ihr; wir stehen schlecht miteinander und ich habe seit Jahren kein Wort mit ihr gewechselt. Wir würden es vielleicht noch leicht nehmen, wenn diese Träumer die ihnen zugedeuteten Tendenzen nicht bestätigten oder verleugneten; wir könnten sagen, das sind eben Dinge, die sie von sich nicht wissen. Aber daß sie das genaue Gegenteil eines solchen gedeuteten Wunsches in sich verspüren und uns die Vorherrschaft dieses Gegensatzes durch ihre Lebensführung beweisen können, das muß uns doch endlich stutzig machen. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, die ganze Arbeit an der Traumdeutung als etwas, was durch seine Resultate ad absurdum geführt ist, beiseite zuwerfen? Nein, noch immer nicht. Auch dieses stärkere Argument zerbricht, wenn wir es kritisch angreifen. Vorausgesetzt, daß es unbewußte Tendenzen im Seelenleben gibt, so hat es gar keine Beweiskraft, wenn die ihnen entgegengesetzten im bewußten Leben als herrschend nachgewiesen werden. Vielleicht gibt es im Seelenleben auch Raum für gegensätzliche Tendenzen, für Widersprüche, die nebeneinander bestehen; ja möglicherweise ist gerade die Vorherrschaft der einen Regung eine Bedingung für das Unbewußtsein ihres Gegensatzes. Es bleibt also doch bei den zuerst erhobenen Einwendungen, die Resultate der Traumdeutung seien nicht einfach und sehr unerfreulich. Aufs erste ist zu erwidern, daß Sie mit aller Schwärmerei für das Einfache nicht eines der Traumprobleme lösen können; Sie müssen sich da schon zur Annahme komplizierter Verhältnisse bequemen. Und zum zweiten, daß Sie offenbar unrecht daran tun, ein Wohlgefallen oder eine Abstoßung, die Sie verspüren, als Motiv für ein wissenschaftliches Urteil zu verwenden. Was macht es, daß Ihnen die Resultate der Traumdeutung unerfreulich, ja beschämend und widerwärtig erscheinen? Ça n’empêche pas d’exister, habe ich als junger Doktor meinen Meister Charcot in ähnlichem Falle sagen gehört. Es heißt demütig sein, seine Sympathien und Antipathien fein zurückstellen, wenn man erfahren will, was in dieser Welt real ist. Wenn Ihnen ein Physiker beweisen kann, daß das organische Leben dieser Erde binnen kurzer Frist einer völligen Erstarrung weichen muß, getrauen Sie sich auch ihm zu entgegnen: Das kann nicht sein; diese Aussicht ist zu unerfreulich? Ich meine, Sie werden schweigen, bis ein anderer Physiker kommt und dem ersten einen Fehler in seinen Voraussetzungen oder Berechnungen nachweist. Wenn Sie von sich weisen, was Ihnen unangenehm ist, so wiederholen Sie vielmehr den Mechanismus der Traumbildung, anstatt ihn zu verstehen und ihn zu überwinden. Sie versprechen dann vielleicht, von dem abstoßenden Charakter der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen sich auf das Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß man dem Bösen in der Konstitution des Menschen einen so breiten Raum zugestehen solle. Aber berechtigen Sie Ihre eigenen Erfahrungen dazu, das zu sagen? Ich will nicht davon sprechen, wie Sie sich selbst erscheinen mögen, aber haben Sie so viel Wohlwollen bei Ihren Vorgesetzten und Konkurrenten gefunden, so viel Ritterlichkeit bei Ihren Feinden und so wenig Neid in Ihrer Gesellschaft, daß sie sich verpflichtet fühlen müssen, gegen den Anteil des egoistisch Bösen an der menschlichen Natur aufzutreten? Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht und unzuverlässig der Durchschnitt der Menschen in allen Angelegenheiten des Sexuallebens ist? Oder wissen Sie nicht, daß alle Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen, alltäglich von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen werden? Was tut die Psychoanalyse hier anders als das alte Wort von Plato bestätigen, daß die Guten diejenigen sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die Bösen wirklich tun? Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg, der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Unmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen 87
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Schriften von Sigmund Freud (1856–1939)
Titel
Schriften von Sigmund Freud
Untertitel
(1856–1939)
Autor
Sigmund Freud
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
21.6 x 28.0 cm
Seiten
2789
Schlagwörter
Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
Kategorien
Geisteswissenschaften
Medizin
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