Seite - 96 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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In den Mythen von der Geburt des Helden, die O. Rank einer vergleichenden Untersuchung
unterzogen hat, – der älteste ist der des Königs Sargon von Agade, etwa 2800 v. Chr. – spielt die
Aussetzung ins Wasser und die Rettung aus dem Wasser eine überwiegende Rolle. Rank hat
erkannt, daß dies Darstellungen der Geburt sind, analog der im Traume üblichen. Wenn man im
Traum eine Person aus dem Wasser rettet, macht man sich zu ihrer Mutter oder zur Mutter
schlechtweg; im Mythus bekennt sich eine Person, die ein Kind aus dem Wasser rettet, als die
richtige Mutter des Kindes. In einem bekannten Scherz wird der intelligente Judenknabe gefragt,
wer denn die Mutter des Moses war. Er antwortet unbedenklich: die Prinzessin. Aber nein, wird
ihm vorgehalten, die hat ihn ja nur aus dem Wasser gezogen. So sagt sie, repliziert er und beweist
damit, daß er die richtige Deutung des Mythus gefunden hat.
Das Abreisen bedeutet im Traum Sterben. Es ist auch der Brauch der Kinderstube, wenn sich das
Kind nach dem Verbleib eines Verstorbenen erkundigt, den es vermißt, ihm zu sagen, er sei
verreist. Wiederum möchte ich dem Glauben widersprechen, daß das Traumsymbol von dieser
gegen das Kind gebrauchten Ausrede stammt. Der Dichter bedient sich derselben
Symbolbeziehung, wenn er vom Jenseits als vom unentdeckten Land spricht, von dessen Bezirk
kein Reisender (no traveller) wiederkehrt. Auch im Alltag ist es uns durchaus gebräuchlich, von
der letzten Reise zu sprechen. Jeder Kenner des alten Ritus weiß, wie ernst z. B. im
altägyptischen Glauben die Vorstellung von einer Reise ins Land des Todes genommen wurde. In
vielen Exemplaren ist uns das Totenbuch erhalten, welches wie ein Bädeker der Mumie auf diese
Reise mitgegeben wurde. Seitdem die Begräbnisstätten von den Wohnstätten abgesondert worden
sind, ist ja auch die letzte Reise des Verstorbenen eine Realität geworden.
Ebensowenig ist etwa die Genitalsymbolik etwas, was dem Traume allein zukommt. Jeder von
Ihnen wird wohl einmal so unhöflich gewesen sein, eine Frau eine »alte Schachtel« zu nennen,
vielleicht ohne zu wissen, daß er sich dabei eines Genitalsymbols bedient. Im Neuen Testament
heißt es: Das Weib ist ein schwaches Gefäß. Die heiligen Schriften der Juden sind in ihrem dem
poetischen so angenäherten Stil erfüllt von sexualsymbolischen Ausdrücken, die nicht immer
richtig verstanden worden sind und deren Auslegung z. B. im Hohen Lied zu manchen
Mißverständnissen geführt hat. In der späteren hebräischen Literatur ist die Darstellung des
Weibes als Haus, wobei die Tür die Geschlechtsöffnung vertritt, eine sehr verbreitete. Der Mann
beklagt sich z. B. im Falle der fehlenden Jungfräulichkeit, daß er die Tür geöffnet gefunden hat.
Auch das Symbol Tisch für Weib ist in dieser Literatur bekannt. Die Frau sagt von ihrem Manne:
Ich ordnete ihm den Tisch, er aber wendete ihn um. Lahme Kinder sollen dadurch entstehen, daß
der Mann den Tisch umwendet. Ich entnehme diese Belege einer Abhandlung von L. Levy in
Brunn: ›Die Sexualsymbolik der Bibel und des Talmuds‹.
Daß auch die Schiffe des Traumes Weiber bedeuten, machen uns die Etymologen glaubwürdig,
die behaupten, Schiff sei ursprünglich der Name eines tönernen Gefäßes gewesen und sei
dasselbe Wort wie Schaff. Daß der Ofen ein Weib und Mutterleib ist, wird uns durch die
griechische Sage von Periander von Korinth und seiner Frau Melissa bestätigt. Als nach Herodots
Bericht der Tyrann den Schatten seiner heißgeliebten, aber aus Eifersucht von ihm ermordeten
Gemahlin beschwor, um eine Auskunft von ihr zu bekommen, beglaubigte sich die Tote durch
die Mahnung, daß er, Periander, sein Brot in einen kalten Ofen geschoben, als Verhüllung eines
Vorganges, der keiner anderen Person bekannt sein konnte. In der von F. S. Krauß
herausgegebenen Anthropophyteia, einem unersetzlichen Quellenwerk für alles, was das
Geschlechtsleben der Völker betrifft, lesen wir, daß man in einer bestimmten deutschen
Landschaft von einer Frau, die entbunden hat, sagt: Der Ofen ist bei ihr zusammengebrochen. Die
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin