Seite - 99 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 99 -
Text der Seite - 99 -
zumeist unbekannt; auch wir mußten sie erst mühsam zusammensuchen.
Zweitens sind diese Symbolbeziehungen nichts, was dem Träumer oder der Traumarbeit, durch
die sie zum Ausdruck kommen, eigentümlich wäre. Wir haben ja erfahren, derselben Symbolik
bedienen sich Mythen und Märchen, das Volk in seinen Sprüchen und Liedern, der gemeine
Sprachgebrauch und die dichterische Phantasie. Das Gebiet der Symbolik ist ein ungemein
großes, die Traumsymbolik ist nur ein kleiner Teil davon; es ist nicht einmal zweckmäßig, das
ganze Problem vom Traum aus in Angriff zu nehmen. Viele der anderswo gebräuchlichen
Symbole kommen im Traum nicht oder nur sehr selten vor; manche der Traumsymbole finden
sich nicht auf allen anderen Gebieten wieder, sondern, wie Sie gesehen haben, nur hier und dort.
Man bekommt den Eindruck, daß hier eine alte, aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt,
von welcher sich auf verschiedenen Gebieten Verschiedenes erhalten hat, das eine nur hier, das
andere nur dort, ein drittes vielleicht in leicht veränderten Formen auf mehreren Gebieten. Ich
muß hier der Phantasie eines interessanten Geisteskranken gedenken, welcher eine
»Grundsprache« imaginiert hatte, von welcher all diese Symbolbeziehungen die Überreste
wären.
Drittens muß Ihnen auffallen, daß die Symbolik auf den genannten anderen Gebieten keineswegs
nur Sexualsymbolik ist, während im Traume die Symbole fast ausschließend zum Ausdruck
sexueller Objekte und Beziehungen verwendet werden. Auch das ist nicht leicht erklärlich.
Sollten ursprünglich sexuell bedeutsame Symbole später eine andere Anwendung erhalten haben,
und hinge damit etwa noch die Abschwächung von der symbolischen zur andersartigen
Darstellung zusammen? Diese Fragen sind offenbar nicht zu beantworten, wenn man sich nur mit
der Traumsymbolik beschäftigt hat. Man darf nur an der Vermutung festhalten, daß eine
besonders innige Beziehung zwischen den richtigen Symbolen und dem Sexuellen besteht.
Ein wichtiger Fingerzeig ist uns hier in den letzten Jahren gegeben worden. Ein Sprachforscher,
H. Sperber (Upsala), der unabhängig von der Psychoanalyse arbeitet, hat die Behauptung
aufgestellt, daß sexuelle Bedürfnisse an der Entstehung und Weiterbildung der Sprache den
größten Anteil gehabt haben. Die anfänglichen Sprachlaute haben der Mitteilung gedient und den
sexuellen Partner herbeigerufen; die weitere Entwicklung der Sprachwurzeln habe die
Arbeitsverrichtungen der Urmenschen begleitet. Diese Arbeiten seien gemeinsame gewesen und
unter rhythmisch wiederholten Sprachäußerungen vor sich gegangen. Dabei sei ein sexuelles
Interesse auf die Arbeit verlegt worden. Der Urmensch habe sich gleichsam die Arbeit
annehmbar gemacht, indem er sie als Äquivalent und Ersatz der Geschlechtstätigkeit behandelte.
Das bei der gemeinsamen Arbeit hervorgestoßene Wort habe so zwei Bedeutungen gehabt, den
Geschlechtsakt bezeichnet wie die ihm gleichgesetzte Arbeitstätigkeit. Mit der Zeit habe sich das
Wort von der sexuellen Bedeutung losgelöst und an diese Arbeit fixiert. Generationen später sei
es mit einem neuen Wort, das nun die Sexualbedeutung hatte und auf eine neue Art von Arbeit
angewendet wurde, ebenso ergangen. Auf solche Weise hätte sich eine Anzahl von
Sprachwurzeln gebildet, die alle sexueller Herkunft waren und ihre sexuelle Bedeutung
abgegeben hatten. Wenn die hier skizzierte Aufstellung das Richtige trifft, eröffnet sich uns
allerdings eine Möglichkeit des Verständnisses für die Traumsymbolik. Wir würden begreifen,
warum es im Traum, der etwas von diesen ältesten Verhältnissen bewahrt, so außerordentlich
viele Symbole für das Geschlechtliche gibt, warum allgemein Waffen und Werkzeuge immer für
das Männliche, die Stoffe und das Bearbeitete fürs Weibliche stehen. Die Symbolbeziehung wäre
der Überrest der alten Wortidentität; Dinge, die einmal gleich geheißen haben wie das Genitale,
könnten jetzt im Traum als Symbole für dasselbe eintreten.
99
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin