Seite - 101 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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11. Vorlesung
Die Traumarbeit
Meine Damen und Herren! Wenn Sie die Traumzensur und die Symboldarstellung bewältigt
haben, haben Sie die Traumentstellung zwar noch nicht gänzlich überwunden, aber Sie sind doch
imstande, die meisten Träume zu verstehen. Sie bedienen sich dabei der beiden einander
ergänzenden Techniken, rufen Einfälle des Träumers auf, bis Sie vom Ersatz zum Eigentlichen
vorgedrungen sind, und setzen für die Symbole deren Bedeutung aus eigener Kenntnis ein. Von
gewissen Unsicherheiten, die sich dabei ergeben, werden wir später handeln.
Wir können nun eine Arbeit wieder aufnehmen, die wir seinerzeit mit unzureichenden Mitteln
versuchten, als wir die Beziehungen zwischen den Traumelementen und ihren Eigentlichen
studierten und dabei vier solcher Hauptbeziehungen feststellten, die des Teils vom Ganzen, die
der Annäherung oder Anspielung, die symbolische Beziehung und die plastische
Wortdarstellung. Dasselbe wollen wir im größeren Maßstabe unternehmen, indem wir den
manifesten Trauminhalt im ganzen mit dem durch Deutung gefundenen latenten Traum
vergleichen.
Ich hoffe, Sie werden diese beiden nie wieder miteinander verwechseln. Wenn Sie das zustande
bringen, haben Sie im Verständnis des Traumes mehr erreicht als wahrscheinlich die meisten
Leser meiner Traumdeutung. Lassen Sie sich auch noch einmal vorhalten, daß jene Arbeit,
welche den latenten Traum in den manifesten umsetzt, die Traumarbeit heißt. Die in
entgegengesetzter Richtung fortschreitende Arbeit, welche vom manifesten Traum zum latenten
gelangen will, ist unsere Deutungsarbeit. Die Deutungsarbeit will die Traumarbeit aufheben. Die
als evidente Wunscherfüllungen erkannten Träume vom infantilen Typus haben doch ein Stück
der Traumarbeit an sich erfahren, nämlich die Umsetzung der Wunschform in die Realität und
zumeist auch die der Gedanken in visuelle Bilder. Hier bedarf es keiner Deutung, nur der
Rückbildung dieser beiden Umsetzungen. Was bei den anderen Träumen an Traumarbeit noch
hinzugekommen ist, das heißen wir die Traumentstellung, und diese ist durch unsere
Deutungsarbeit rückgängig zu machen. Durch die Vergleichung vieler Traumdeutungen bin ich
in die Lage versetzt, Ihnen in zusammenfassender Darstellung anzugeben, was die Traumarbeit
mit dem Material der latenten Traumgedanken macht. Ich bitte Sie aber, davon nicht zuviel
verstehen zu wollen. Es ist ein Stück Deskription, welches mit ruhiger Aufmerksamkeit angehört
werden soll.
Die erste Leistung der Traumarbeit ist die Verdichtung. Wir verstehen darunter die Tatsache, daß
der manifeste Traum weniger Inhalt hat als der latente, also eine Art von abgekürzter
Übersetzung des letzteren ist. Die Verdichtung kann eventuell einmal fehlen, sie ist in der Regel
vorhanden, sehr häufig enorm. Sie schlägt niemals ins Gegenteil um, d. h. es kommt nicht vor,
daß der manifeste Traum umfang- und inhaltsreicher ist als der latente. Die Verdichtung kommt
dadurch zustande, daß 1. gewisse latente Elemente überhaupt ausgelassen werden, 2. daß von
manchen Komplexen des latenten Traumes nur ein Brocken in den manifesten übergeht, 3. daß
latente Elemente, die etwas Gemeinsames haben, für den manifesten Traum zusammengelegt, zu
einer Einheit verschmolzen werden.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin