Seite - 106 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 106 -
Text der Seite - 106 -
Noch eine andere Eigentümlichkeit der Traumarbeit findet in der Sprachentwicklung ihr
Gegenstück. In der altägyptischen kam es wie in anderen späteren Sprachen vor, daß die
Lautfolge der Worte für denselben Sinn umgekehrt wurde. Solche Beispiele zwischen dem
Englischen und dem Deutschen sind: Topf – pot; boat – tub; hurry (eilen) – Ruhe; Balken –
Kloben, club; wait (warten) – täuwen.
Zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen: capere – packen; ren – Niere.
Solche Umkehrungen, wie sie hier am einzelnen Wort genommen werden, kommen durch die
Traumarbeit in verschiedener Weise zustande. Die Umkehrung des Sinnes, Ersetzung durch das
Gegenteil, kennen wir bereits. Außerdem finden sich in Träumen Umkehrungen der Situation, der
Beziehung zwischen zwei Personen, also wie in der »verkehrten Welt«. Im Traum schießt häufig
genug der Hase auf den Jäger. Ferner Umkehrung in der Reihenfolge der Begebenheiten, so daß
die kausal vorangehende der ihr nachfolgenden im Traume nachgesetzt wird. Das ist dann wie in
der Aufführung eines Stückes in einer schlechten Schmiere, wo zuerst der Held hinfällt und erst
nachher aus der Kulisse der Schuß abgefeuert wird, der ihn tötet. Oder es gibt Träume, in denen
die ganze Ordnung der Elemente verkehrt ist, so daß man in der Deutung ihr letztes zuerst und ihr
erstes zuletzt nehmen muß, um einen Sinn herauszubekommen. Sie erinnern sich auch aus
unseren Studien über die Traumsymbolik, daß ins Wasser gehen oder fallen dasselbe bedeutet
wie aus dem Wasser kommen, nämlich gebären oder geboren werden, und daß eine Treppe,
Leiter, hinaufsteigen dasselbe ist wie sie heruntergehen. Es ist unverkennbar, welchen Vorteil die
Traumentstellung aus solcher Darstellungsfreiheit ziehen kann.
Diese Züge der Traumarbeit darf man als archaische bezeichnen. Sie haften ebenso den alten
Ausdruckssystemen, Sprachen und Schriften an und bringen dieselben Erschwerungen mit sich,
von denen in einem kritischen Zusammenhange noch die Rede sein wird.
Nun noch einige andere Gesichtspunkte. Bei der Traumarbeit handelt es sich offenbar darum, die
in Worte gefaßten latenten Gedanken in sinnliche Bilder, meist visueller Natur, umzusetzen. Nun
sind unsere Gedanken aus solchen Sinnesbildern hervorgegangen; ihr erstes Material und ihre
Vorstufen waren Sinneseindrücke, richtiger gesagt, die Erinnerungsbilder von solchen. An diese
wurden erst später Worte geknüpft und diese dann zu Gedanken verbunden. Die Traumarbeit läßt
also die Gedanken eine regressive Behandlung erfahren, macht deren Entwicklung rückgängig,
und bei dieser Regression muß all das wegfallen, was bei der Fortentwicklung der
Erinnerungsbilder zu Gedanken als neuer Erwerb dazugekommen ist.
Dies wäre also die Traumarbeit. Gegen die Vorgänge, die wir bei ihr kennengelernt haben, mußte
das Interesse am manifesten Traum weit zurücktreten. Ich will aber diesem letzteren, der doch
das einzige uns unmittelbar Bekannte ist, noch einige Bemerkungen widmen.
Es ist natürlich, daß der manifeste Traum für uns an Bedeutung verliert. Es muß uns gleichgültig
erscheinen, ob er gut komponiert oder in eine Reihe von Einzelbildern ohne Zusammenhang
aufgelöst ist. Selbst wenn er eine anscheinend sinnvolle Außenseite hat, wissen wir doch, daß
diese durch Traumentstellung entstanden sein und zum inneren Gehalt des Traumes so wenig
organische Beziehung haben kann wie die Fassade einer italienischen Kirche zu deren Struktur
und Grundriß. Andere Male hat auch diese Fassade des Traumes ihre Bedeutung, indem sie einen
wichtigen Bestandteil der latenten Traumgedanken wenig oder gar nicht entstellt wiederbringt.
Aber wir können das nicht wissen, ehe wir den Traum der Deutung unterzogen und dadurch ein
106
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin