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12. Vorlesung
Analysen von Traumbeispielen
Meine Damen und Herren! Seien Sie nun nicht enttäuscht, wenn ich Ihnen wiederum
Bruchstücke von Traumdeutungen vorlege, anstatt Sie zur Teilnahme an der Deutung eines
schönen großen Traumes einzuladen. Sie werden sagen, nach so vielen Vorbereitungen hätten Sie
ein Recht darauf, und werden Ihrer Überzeugung Ausdruck geben, daß es nach gelungener
Deutung von soviel tausend Träumen längst hätte möglich werden müssen, eine Sammlung von
ausgezeichneten Traumbeispielen zusammenzutragen, an welcher sich alle unsere Behauptungen
über Traumarbeit und Traumgedanken demonstrieren ließen. Ja, aber der Schwierigkeiten,
welche der Erfüllung Ihres Wunsches im Wege stehen, sind zu viele.
Vor allem muß ich Ihnen gestehen, daß es niemand gibt, der die Traumdeutung als seine
Hauptbeschäftigung betreibt. Wann kommt man denn dazu, Träume zu deuten? Gelegentlich
kann man sich ohne besondere Absicht mit den Träumen einer befreundeten Person beschäftigen,
oder man arbeitet eine Zeitlang seine eigenen Träume durch, um sich für psychoanalytische
Arbeit zu schulen; zumeist hat man es aber mit den Träumen nervöser Personen zu tun, die in
analytischer Behandlung stehen. Diese letzteren Träume sind ausgezeichnetes Material und
stehen in keiner Weise hinter denen Gesunder zurück, aber man ist durch die Technik der
Behandlung genötigt, die Traumdeutung den therapeutischen Absichten unterzuordnen und eine
ganze Anzahl von Träumen stehenzulassen, nachdem man ihnen etwas für die Behandlung
Brauchbares entnommen hat. Manche Träume, die in den Kuren vorfallen, entziehen sich
überhaupt einer vollständigen Deutung. Da sie aus der Gesamtmenge des uns noch unbekannten
psychischen Materials erwachsen sind, wird ihr Verständnis erst nach Abschluß der Kur möglich.
Die Mitteilung solcher Träume würde auch die Aufdeckung aller Geheimnisse einer Neurose
notwendig machen; das geht also nicht bei uns, die wir den Traum als Vorbereitung für das
Studium der Neurosen in Angriff genommen haben.
Nun würden Sie gerne auf dieses Material verzichten und wollten lieber Träume von gesunden
Menschen oder eigene Träume erläutert hören. Das geht aber wegen des Inhalts dieser Träume
nicht an. Man kann weder sich selbst noch einen anderen, dessen Vertrauen man in Anspruch
genommen hat, so rücksichtslos bloßstellen, wie es die eingehende Deutung seiner Träume mit
sich brächte, die, wie Sie bereits wissen, das Intimste seiner Persönlichkeit betreffen. Außer
dieser Schwierigkeit der Materialbeschaffung kommt für die Mitteilung eine andere in Betracht.
Sie wissen, der Traum erscheint dem Träumer selbst fremdartig, geschweige denn einem anderen,
dem die Person des Träumers unbekannt ist. Unsere Literatur ist nicht arm an guten und
ausführlichen Traumanalysen; ich selbst habe einige im Rahmen von Krankengeschichten
veröffentlicht; vielleicht das schönste Beispiel einer Traumdeutung ist das von O. Rank
mitgeteilte, zwei aufeinander bezügliche Träume eines jungen Mädchens, die im Druck etwa
zwei Seiten einnehmen; die Analyse dazu umfaßt aber 76 Seiten. Ich brauchte etwa ein ganzes
Semester, um Sie durch eine solche Arbeit hindurch zu geleiten. Wenn man irgendeinen längeren
und stärker entstellten Traum vornimmt, so muß man soviel Aufklärungen dazugeben, soviel
Material von Einfällen und Erinnerungen heranziehen, auf so viele Seitenwege eingehen, daß ein
Vortrag darüber ganz unübersichtlich und unbefriedigend ausfallen würde. Ich muß Sie also
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin