Seite - 114 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Ein Offizier mit einer roten Kappe läuft ihr auf der Straße nach. Sie flieht vor ihm, läuft die
Stiege hinauf, er immer nach. Atemlos erreicht sie ihre Wohnung und wirft die Türe hinter sich
ins Schloß. Er bleibt draußen, und wie sie durchs Guckloch schaut, sitzt er draußen auf einer
Bank und weint.
Sie erkennen wohl in der Verfolgung durch den Offizier mit der roten Kappe und in dem
atemlosen Steigen die Darstellung des Geschlechtsaktes. Daß die Träumerin sich vor dem
Verfolger verschließt, mag Ihnen als Beispiel der im Traum so häufig angewendeten
Umkehrungen gelten, denn in Wirklichkeit hatte sich ja der Mann der Beendigung des
Liebesaktes entzogen. Ebenso ist ihre Trauer auf den Partner verschoben, er ist es ja, der im
Traume weint, womit gleichzeitig der Samenerguß angedeutet ist.
Sie werden gewiß einmal gehört haben, in der Psychoanalyse werde behauptet, daß alle Träume
sexuelle Bedeutung haben. Nun sind Sie selbst in die Lage gekommen, sich über die
Unkorrektheit dieses Vorwurfs ein Urteil zu bilden. Sie haben die Wunschträume kennengelernt,
die von der Befriedigung der klarliegendsten Bedürfnisse, des Hungers, des Durstes, der
Sehnsucht nach Freiheit handeln, die Bequemlichkeits- und Ungeduldsträume und ebenso rein
habsüchtige und egoistische. Aber daß die stark entstellten Träume vorwiegend – wiederum nicht
ausschließlich – sexuellen Wünschen Ausdruck geben, dürfen Sie allerdings als Ergebnis der
psychoanalytischen Forschung im Gedächtnis behalten.
6) Ich habe ein besonderes Motiv, die Beispiele für die Symbolverwendung im Traume zu
häufen. Ich habe mich bei unserem ersten Zusammentreffen darüber beklagt, wie schwierig die
Demonstration und damit das Erwecken von Überzeugungen in der Unterweisung der
Psychoanalyse sei, und Sie haben mir seither gewiß beigestimmt. Nun hängen aber die einzelnen
Behauptungen der Psychoanalyse doch so innig zusammen, daß die Überzeugung sich leicht von
einem Punkt her auf einen größeren Teil des Ganzen fortsetzen kann. Man könnte von der
Psychoanalyse sagen, wer ihr den kleinen Finger gibt, den hält sie schon bei der ganzen Hand.
Schon wem die Aufklärung der Fehlleistungen eingeleuchtet hat, der kann sich logischerweise
dem Glauben an alles andere nicht mehr entziehen. Eine zweite ebenso zugängliche Stelle ist in
der Traumsymbolik gegeben. Ich werde Ihnen den bereits publizierten Traum einer Frau aus dem
Volke vorlegen, deren Mann Wachmann ist und die gewiß niemals etwas von Traumsymbolik
und Psychoanalyse gehört hat. Urteilen Sie dann selbst, ob dessen Auslegung mit Hilfe von
Sexualsymbolen willkürlich und gezwungen genannt werden kann.
»… Dann sei jemand in die Wohnung eingebrochen und sie habe angstvoll nach einem
Wachmann gerufen. Dieser aber sei mit zwei ›Pülchern‹ einträchtig in eine Kirche gegangen, zu
der mehrere Stufen emporführten. Hinter der Kirche sei ein Berg gewesen und oben ein dichter
Wald. Der Wachmann sei mit einem Helm, Ringkragen und Mantel versehen gewesen. Er habe
einen braunen Vollbart gehabt. Die beiden Vaganten, die friedlich mit dem Wachmann gegangen
seien, hätten sackartig aufgebundene Schürzen um die Lenden geschlungen gehabt. Von der
Kirche habe zum Berge ein Weg geführt. Dieser sei beiderseits mit Gras und Gestrüpp
verwachsen gewesen, das immer dichter wurde und auf der Höhe des Berges ein ordentlicher
Wald geworden sei.«
Die verwendeten Symbole erkennen Sie ohne Mühe. Das männliche Genitale ist durch eine
Dreiheit von Personen dargestellt, das weibliche durch eine Landschaft mit Kapelle, Berg und
Wald. Wiederum begegnen Sie den Stufen als Symbol des Sexualaktes. Was im Traume ein Berg
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin