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13. Vorlesung
Archaische Züge und Infantilismus des Traumes
Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns wieder an unser Resultat anknüpfen, daß die
Traumarbeit die latenten Traumgedanken unter dem Einfluß der Traumzensur in eine andere
Ausdrucksweise überführt. Die latenten Gedanken sind nicht anders als die uns bekannten
bewußten Gedanken unseres Wachlebens; die neue Ausdrucksweise ist uns durch vielfältige
Züge unverständlich. Wir haben gesagt, daß sie auf Zustände unserer intellektuellen Entwicklung
zurückgreift, die wir längst überwunden haben, auf die Bildersprache, die Symbolbeziehung,
vielleicht auf Verhältnisse, die vor der Entwicklung unserer Denksprache bestanden haben. Wir
nannten die Ausdrucksweise der Traumarbeit darum eine archaische oder regressive.
Sie können daraus den Schluß ableiten, daß es durch das vertieftere Studium der Traumarbeit
gelingen müßte, wertvolle Aufschlüsse über die nicht gut gekannten Anfänge unserer
intellektuellen Entwicklung zu gewinnen. Ich hoffe, es wird so sein, aber diese Arbeit ist bisher
noch nicht in Angriff genommen worden. Die Vorzeit, in welche die Traumarbeit uns
zurückführt, ist eine zweifache, erstens die individuelle Vorzeit, die Kindheit, anderseits, insofern
jedes Individuum in seiner Kindheit die ganze Entwicklung der Menschenart irgendwie abgekürzt
wiederholt, auch diese Vorzeit, die phylogenetische. Ob es gelingen wird zu unterscheiden,
welcher Anteil der latenten seelischen Vorgänge aus der individuellen, und welcher aus der
phylogenetischen Urzeit stammt, – ich halte es nicht für unmöglich. So scheint mir z. B. die
Symbolbeziehung, die der Einzelne niemals erlernt hat, zum Anspruch berechtigt, als
phylogenetisches Erbe betrachtet zu werden.
Indes ist dies nicht der einzige archaische Charakter des Traumes. Sie kennen alle wohl aus der
Erfahrung an sich die merkwürdige Amnesie der Kindheit. Ich meine die Tatsache, daß die ersten
Lebensjahre, bis zum fünften, sechsten oder achten, nicht die Spuren im Gedächtnis hinterlassen
haben wie das spätere Erleben. Man trifft zwar auf einzelne Menschen, welche sich einer
kontinuierlichen Erinnerung vom frühen Anfang bis auf den heutigen Tag rühmen können, aber
das andere Verhalten, das der Gedächtnislücke, ist das ungleich häufigere. Ich meine, über diese
Tatsache hat man sich nicht genug verwundert. Das Kind kann mit zwei Jahren gut sprechen, es
zeigt bald, daß es sich in komplizierten seelischen Situationen zurechtfindet, und gibt
Äußerungen von sich, die ihm viele Jahre später wiedererzählt werden, die es selbst aber
vergessen hat. Und dabei ist das Gedächtnis in frühen Jahren leistungsfähiger, weil weniger
überladen als in späteren. Auch liegt kein Anlaß vor, die Gedächtnisfunktion für eine besonders
hohe oder schwierige Seelenleistung zu halten; man kann im Gegenteile ein gutes Gedächtnis
noch bei Personen finden, die intellektuell sehr niedrig stehen.
Als zweite Merkwürdigkeit, die dieser ersten aufgesetzt ist, muß ich aber anführen, daß aus der
Erinnerungsleere, welche die ersten Kindheitsjahre umfaßt, sich einzelne gut erhaltene, meist
plastisch empfundene Erinnerungen herausheben, welche diese Erhaltung nicht rechtfertigen
können. Mit dem Material von Eindrücken, welche uns im späteren Leben treffen, verfährt unser
Gedächtnis so, daß es eine Auslese vornimmt. Es behält das irgend Wichtige und läßt
Unwichtiges fallen. Mit den erhaltenen Kindheitserinnerungen ist es anders. Sie entsprechen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin