Seite - 125 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Schätzung der menschlichen Natur gelangen.
Als Ergebnis der ganzen Untersuchung erfassen wir zwei Einsichten, die aber nur den Anfang
von neuen Rätseln, neuen Zweifeln bedeuten. Erstens: Die Regression der Traumarbeit ist nicht
nur eine formale, sondern auch eine materielle. Sie übersetzt nicht nur unsere Gedanken in eine
primitive Ausdrucksform, sondern sie weckt auch die Eigentümlichkeiten unseres primitiven
Seelenlebens wieder auf, die alte Übermacht des Ichs, die anfänglichen Regungen unseres
Sexuallebens, ja selbst unseren alten intellektuellen Besitz, wenn wir die Symbolbeziehung als
solchen auffassen dürfen. Und zweitens: All dies alte Infantile, was einmal herrschend und
alleinherrschend war, müssen wir heute dem Unbewußten zurechnen, von dem unsere
Vorstellungen sich nun verändern und erweitern. Unbewußt ist nicht mehr ein Name für das
derzeit Latente, das Unbewußte ist ein besonderes seelisches Reich mit eigenen
Wunschregungen, eigener Ausdrucksweise und ihm eigentümlichen seelischen Mechanismen, die
sonst nicht in Kraft sind. Aber die latenten Traumgedanken, die wir durch die Traumdeutung
erraten haben, sind doch nicht von diesem Reich; sie sind vielmehr so, wie wir sie auch im
Wachen hätten denken können. Unbewußt sind sie aber doch; wie löst sich also dieser
Widerspruch? Wir beginnen zu ahnen, daß hier eine Sonderung vorzunehmen ist. Etwas, was aus
unserem bewußten Leben stammt und dessen Charaktere teilt – wir heißen es: die Tagesreste –
tritt mit etwas anderem aus jenem Reich des Unbewußten zur Traumbildung zusammen.
Zwischen diesen beiden Anteilen vollzieht sich die Traumarbeit. Die Beeinflussung der
Tagesreste durch das hinzutretende Unbewußte enthält wohl die Bedingung für die Regression.
Es ist dies die tiefste Einsicht über das Wesen des Traumes, zu welcher wir hier, ehe wir weitere
seelische Gebiete durchforscht haben, gelangen können. Es wird aber bald an der Zeit sein, den
unbewußten Charakter der latenten Traumgedanken mit einem anderen Namen zu belegen, zur
Unterscheidung von dem Unbewußten aus jenem Reich des Infantilen.
Wir können natürlich auch die Frage auf werfen: Was nötigt die psychische Tätigkeit während
des Schlafens zu solcher Regression? Warum erledigt sie die schlafstörenden seelischen Reize
nicht ohne diese? Und wenn sie aus Motiven der Traumzensur sich der Verkleidung durch die
alte, jetzt unverständliche Ausdrucksform bedienen muß, wozu dient ihr die Wiederbelebung der
alten, jetzt überwundenen Seelenregungen, Wünsche und Charakterzüge, also die materielle
Regression, die zu der formalen hinzukommt? Die einzige Antwort, die uns befriedigen würde,
wäre, daß nur auf solche Weise ein Traum gebildet werden kann, daß dynamisch die Aufhebung
des Traumreizes nicht anders möglich ist. Aber wir haben vorläufig nicht das Recht, eine solche
Antwort zu geben.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin