Seite - 126 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 126 -
Text der Seite - 126 -
14. Vorlesung
Die Wunscherfüllung
Meine Damen und Herren! Soll ich Ihnen nochmals vorhalten, welchen Weg wir bisher
zurückgelegt haben? Wie wir bei der Anwendung unserer Technik auf die Traumentstellung
gestoßen sind, uns besonnen haben, ihr zunächst auszuweichen, und uns die entscheidenden
Auskünfte über das Wesen des Traumes an den infantilen Träumen geholt haben? Wie wir dann,
mit den Ergebnissen dieser Untersuchung ausgerüstet, die Traumentstellung direkt angegriffen
und sie, ich hoffe es, auch schrittweise überwunden haben? Nun aber müssen wir uns sagen, was
wir auf dem einen und auf dem anderen Weg gefunden, trifft nicht ganz zusammen. Es wird uns
zur Aufgabe, beiderlei Ergebnisse zusammenzusetzen und gegeneinander auszugleichen.
Von beiden Seiten her hat sich uns ergeben, die Traumarbeit bestehe wesentlich in der
Umsetzung von Gedanken in ein halluzinatorisches Erleben. Wie das geschehen kann, ist
rätselhaft genug, aber es ist ein Problem der allgemeinen Psychologie, das uns hier nicht
beschäftigen soll. Aus den Kinderträumen haben wir erfahren, die Traumarbeit beabsichtige die
Beseitigung eines den Schlaf störenden seelischen Reizes durch eine Wunscherfüllung. Von den
entstellten Träumen konnten wir nichts Ähnliches aussagen, ehe wir sie zu deuten verstanden.
Unsere Erwartung ging aber von Anfang an dahin, die entstellten Träume unter dieselben
Gesichtspunkte bringen zu können wie die infantilen. Die erste Erfüllung dieser Erwartung
brachte uns die Einsicht, daß eigentlich alle Träume – die Träume von Kindern sind, mit dem
infantilen Material, den kindlichen Seelenregungen und Mechanismen arbeiten. Nachdem wir die
Traumentstellung für überwunden halten, müssen wir an die Untersuchung gehen, ob die
Auffassung als Wunscherfüllungen auch für die entstellten Träume Geltung hat.
Wir haben erst kürzlich eine Reihe von Träumen der Deutung unterzogen, aber die
Wunscherfüllung ganz außer Betracht gelassen. Ich bin überzeugt, daß sich Ihnen dabei
wiederholt die Frage aufgedrängt hat: Wo bleibt denn die Wunscherfüllung, die angeblich das
Ziel der Traumarbeit ist? Diese Frage ist bedeutsam; sie ist nämlich die Frage unserer
Laienkritiker geworden. Wie Sie wissen, hat die Menschheit ein instinktives Abwehrbestreben
gegen intellektuelle Neuheiten. Zu den Äußerungen desselben gehört, daß eine solche Neuheit
sofort auf den geringsten Umfang reduziert, womöglich in ein Schlagwort komprimiert wird. Für
die neue Traumlehre ist die Wunscherfüllung dies Schlagwort geworden. Der Laie stellt die
Frage: Wo ist die Wunscherfüllung? Sofort, nachdem er gehört hat, daß der Traum eine
Wunscherfüllung sein soll, und indem er sie stellt, beantwortet er sie ablehnend. Es fallen ihm
sofort ungezählte eigene Traumerfahrungen ein, in denen sich Unlust bis zu schwerer Angst an
das Träumen geknüpft hat, so daß ihm die Behauptung der psychoanalytischen Traumlehre recht
unwahrscheinlich wird. Wir haben es leicht, ihm zu antworten, daß bei den entstellten Träumen
die Wunscherfüllung nicht offenkundig sein kann, sondern erst gesucht werden muß, so daß sie
vor der Deutung des Traumes nicht anzugeben ist. Wir wissen auch, daß die Wünsche dieser
entstellten Träume verbotene, von der Zensur abgewiesene Wünsche sind, deren Existenz eben
die Ursache der Traumentstellung, das Motiv für das Eingreifen der Traumzensur geworden ist.
Aber dem Laienkritiker ist es schwer beizubringen, daß man vor der Deutung des Traumes nicht
nach dessen Wunscherfüllung fragen darf. Er wird es doch immer wieder vergessen. Seine
126
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin