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Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Seite - 143 -
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16. Vorlesung Psychoanalyse und Psychiatrie Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Sie nach Jahresfrist zur Fortsetzung unserer Besprechungen wiederzusehen. Ich habe Ihnen im Vorjahre die psychoanalytische Behandlung der Fehlleistungen und des Traumes vorgetragen; ich möchte Sie heuer in das Verständnis der neurotischen Erscheinungen einführen, die, wie Sie bald entdecken werden, mit beiden vielerlei Gemeinsames haben. Aber ich sage es Ihnen vorher, ich kann Ihnen diesmal nicht dieselbe Stellung mir gegenüber einräumen wie im Vorjahre. Damals lag mir daran, keinen Schritt zu tun, ohne mit Ihrem Urteil im Einvernehmen zu bleiben; ich diskutierte viel mit Ihnen, unterwarf mich Ihren Einwendungen, anerkannte eigentlich Sie und Ihren »gesunden Menschenverstand« als entscheidende Instanz. Das geht jetzt nicht länger, und zwar wegen eines einfachen Sachverhaltes. Fehlleistungen und Träume waren Ihnen als Phänomene nicht fremd; man konnte sagen, Sie besaßen ebensoviel Erfahrung wie ich oder hatten es leicht, sich ebensoviel Erfahrung zu verschaffen. Das Erscheinungsgebiet der Neurosen ist Ihnen aber fremd; insofern Sie nicht selbst Ärzte sind, haben Sie keinen anderen Zugang dahin als eben meine Mitteilungen, und was hilft das beste Urteil, wenn die Vertrautheit mit dem zu beurteilenden Material nicht mit dabei ist. Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise auf, als ob ich dogmatische Vorträge halten und Ihren unbedingten Glauben heischen würde. Das Mißverständnis täte mir grob Unrecht. Ich will keine Überzeugungen erwecken – ich will Anregungen geben und Vorurteile erschüttern. Wenn Sie infolge materieller Unkenntnis nicht in der Lage sind zu urteilen, so sollen Sie weder glauben noch verwerfen. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen erzähle. Überzeugungen erwirbt man sich nicht so leicht, oder wenn man so mühelos zu ihnen gekommen ist, erweisen sie sich bald als wertlos und widerstandsunfähig. Ein Anrecht auf Überzeugung hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an demselben Material gearbeitet und dabei dieselben neuen und überraschenden Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu denn überhaupt auf intellektuellem Gebiet diese raschen Überzeugungen, blitzähnlichen Bekehrungen, momentanen Abstoßungen? Merken Sie nicht, daß der »coup de foudre«, die Liebe auf den ersten Blick, von einem ganz verschiedenen, affektiven Gebiet hergenommen sind? Wir verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen. Versuchen Sie also auch, die psychoanalytische Auffassung neben der populären oder der psychiatrischen ruhig in sich aufwachsen zu lassen, bis sich die Gelegenheiten ergeben, bei denen die beiden sich beeinflussen, sich messen und sich zu einer Entscheidung vereinigen können. Anderseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen, daß das, was ich Ihnen als psychoanalytische Auffassung vortrage, ein spekulatives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung, entweder direkter Ausdruck der Beobachtung oder Ergebnis einer Verarbeitung derselben. Ob diese Verarbeitung auf zureichende und auf berechtigte Weise erfolgt ist, das wird sich im weiteren Fortschritt der Wissenschaft herausstellen, und zwar darf ich, nach Ablauf von fast zweieinhalb Dezennien und im Leben ziemlich weit vorgerückt; ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß es besonders schwere, intensive und vertiefte Arbeit war, welche diese Beobachtungen 143
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Schriften von Sigmund Freud (1856–1939)
Titel
Schriften von Sigmund Freud
Untertitel
(1856–1939)
Autor
Sigmund Freud
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
21.6 x 28.0 cm
Seiten
2789
Schlagwörter
Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
Kategorien
Geisteswissenschaften
Medizin
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