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16. Vorlesung
Psychoanalyse und Psychiatrie
Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Sie nach Jahresfrist zur Fortsetzung unserer
Besprechungen wiederzusehen. Ich habe Ihnen im Vorjahre die psychoanalytische Behandlung
der Fehlleistungen und des Traumes vorgetragen; ich möchte Sie heuer in das Verständnis der
neurotischen Erscheinungen einführen, die, wie Sie bald entdecken werden, mit beiden vielerlei
Gemeinsames haben. Aber ich sage es Ihnen vorher, ich kann Ihnen diesmal nicht dieselbe
Stellung mir gegenüber einräumen wie im Vorjahre. Damals lag mir daran, keinen Schritt zu tun,
ohne mit Ihrem Urteil im Einvernehmen zu bleiben; ich diskutierte viel mit Ihnen, unterwarf
mich Ihren Einwendungen, anerkannte eigentlich Sie und Ihren »gesunden Menschenverstand«
als entscheidende Instanz. Das geht jetzt nicht länger, und zwar wegen eines einfachen
Sachverhaltes. Fehlleistungen und Träume waren Ihnen als Phänomene nicht fremd; man konnte
sagen, Sie besaßen ebensoviel Erfahrung wie ich oder hatten es leicht, sich ebensoviel Erfahrung
zu verschaffen. Das Erscheinungsgebiet der Neurosen ist Ihnen aber fremd; insofern Sie nicht
selbst Ärzte sind, haben Sie keinen anderen Zugang dahin als eben meine Mitteilungen, und was
hilft das beste Urteil, wenn die Vertrautheit mit dem zu beurteilenden Material nicht mit dabei ist.
Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise auf, als ob ich dogmatische Vorträge
halten und Ihren unbedingten Glauben heischen würde. Das Mißverständnis täte mir grob
Unrecht. Ich will keine Überzeugungen erwecken – ich will Anregungen geben und Vorurteile
erschüttern. Wenn Sie infolge materieller Unkenntnis nicht in der Lage sind zu urteilen, so sollen
Sie weder glauben noch verwerfen. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen
erzähle. Überzeugungen erwirbt man sich nicht so leicht, oder wenn man so mühelos zu ihnen
gekommen ist, erweisen sie sich bald als wertlos und widerstandsunfähig. Ein Anrecht auf
Überzeugung hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an demselben Material
gearbeitet und dabei dieselben neuen und überraschenden Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu
denn überhaupt auf intellektuellem Gebiet diese raschen Überzeugungen, blitzähnlichen
Bekehrungen, momentanen Abstoßungen? Merken Sie nicht, daß der »coup de foudre«, die Liebe
auf den ersten Blick, von einem ganz verschiedenen, affektiven Gebiet hergenommen sind? Wir
verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft an
die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist
uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen. Versuchen Sie also auch, die psychoanalytische
Auffassung neben der populären oder der psychiatrischen ruhig in sich aufwachsen zu lassen, bis
sich die Gelegenheiten ergeben, bei denen die beiden sich beeinflussen, sich messen und sich zu
einer Entscheidung vereinigen können.
Anderseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen, daß das, was ich Ihnen als
psychoanalytische Auffassung vortrage, ein spekulatives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung,
entweder direkter Ausdruck der Beobachtung oder Ergebnis einer Verarbeitung derselben. Ob
diese Verarbeitung auf zureichende und auf berechtigte Weise erfolgt ist, das wird sich im
weiteren Fortschritt der Wissenschaft herausstellen, und zwar darf ich, nach Ablauf von fast
zweieinhalb Dezennien und im Leben ziemlich weit vorgerückt; ohne Ruhmredigkeit behaupten,
daß es besonders schwere, intensive und vertiefte Arbeit war, welche diese Beobachtungen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin