Seite - 145 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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ihnen eine Mutwillensstrafe von soundsoviel Kronen auf. Es wird Sie also nicht verwundern zu
hören, daß selbst bei beschäftigten Psychoanalytikern die Sprechstunde nicht sehr belebt zu sein
pflegt. Ich habe die einfache Tür zwischen meinem Warte- und meinem Behandlungs- und
Ordinationszimmer verdoppeln und durch einen Filzüberzug verstärken lassen. Die Absicht
dieser kleinen Vorrichtung leidet ja keinen Zweifel. Nun geschieht es immer wieder, daß
Personen, die ich aus dem Wartezimmer einlasse, es versäumen, die Türe hinter sich zu
schließen, und zwar lassen sie fast immer beide Türen offen stehen. Sowie ich das bemerke,
bestehe ich in ziemlich unfreundlichem Ton darauf, daß der oder die Eintretende zurückgehe, um
das Versäumte nachzuholen, mag es auch ein eleganter Herr oder eine sehr geputzte Dame sein.
Das macht den Eindruck von unangebrachter Pedanterie. Ich habe mich auch gelegentlich mit
solcher Forderung blamiert, da es sich um Personen handelte, die selbst keine Türklinke anfassen
können und es gern sehen, wenn ihre Begleitung ihnen diese Berührung erspart. Aber in der
Überzahl der Fälle hatte ich recht, denn wer sich so benimmt, wer die Türe vom Wartezimmer
zum Sprechzimmer des Arztes offen stehen läßt, der gehört zum Pöbel und verdient, unfreundlich
empfangen zu werden. Nehmen Sie jetzt nicht Partei, ehe Sie auch das Weitere angehört haben.
Diese Nachlässigkeit des Patienten ereignet sich nämlich nur dann, wenn er sich allein im
Wartezimmer befunden hat und also ein leeres Zimmer hinter sich zurückläßt, niemals wenn
andere, Fremde, mit ihm gewartet haben. In diesem letzteren Falle versteht er sehr wohl, daß es
in seinem Interesse liegt, nicht belauscht zu werden, während er mit dem Arzt spricht, und
versäumt es nie, beide Türen sorgfältig zu schließen.
So determiniert, ist das Versäumnis des Patienten weder zufällig noch sinnlos, ja nicht einmal
unwichtig, denn wir werden sehen, es beleuchtet das Verhältnis des Eintretenden zum Arzt. Der
Patient ist von der großen Menge jener, die weltliche Autorität verlangen, die geblendet,
eingeschüchtert werden wollen. Er hat vielleicht durchs Telephon anfragen lassen, um welche
Zeit er am leichtesten vorkommen kann, er hat sich auf ein Gedränge von Hilfesuchenden gefaßt
gemacht, etwa wie vor einer Filiale von Julius Meinl. Nun tritt er in einen leeren, überdies höchst
bescheiden ausgestatteten Warteraum und ist erschüttert. Er muß es den Arzt entgelten lassen,
daß er ihm einen so überflüssigen Aufwand von Respekt entgegenbringen wollte, und da –
unterläßt er es, die Türe zwischen Warte- und Ordinationszimmer zu schließen. Er will dem Arzt
damit sagen: Ach, hier ist ja niemand und wahrscheinlich wird auch, so lange ich hier bin,
niemand kommen. Er würde sich auch während der Besprechung ganz unmanierlich und
respektlos benehmen, wenn man seine Überhebung nicht gleich anfangs durch eine scharfe
Zurechtweisung eindämmen würde.
Sie finden an der Analyse dieser kleinen Symptomhandlung nichts, was Ihnen nicht bereits
bekannt wäre: Die Behauptung, daß sie nicht zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn und
eine Absicht, daß sie in einen angebbaren seelischen Zusammenhang gehört und daß sie als ein
kleines Anzeichen von einem wichtigeren seelischen Vorgang Kunde gibt. Vor allem anderen
aber, daß dieser so angezeigte Vorgang dem Bewußtsein dessen, der ihn vollzieht, unbekannt ist,
denn keiner der Patienten, welche die beiden Türen offen gelassen haben, würde zugeben
können, daß er mir durch dieses Versäumnis seine Geringschätzung bezeugen wollte. Auf eine
Regung von Enttäuschung beim Betreten des leeren Wartezimmers würde sich wahrscheinlich
mancher besinnen, aber der Zusammenhang zwischen diesem Eindruck und der darauffolgenden
Symptomhandlung ist seinem Bewußtsein sicherlich unerkannt geblieben.
Nun wollen wir dieser kleinen Analyse einer Symptomhandlung eine Beobachtung an einer
Kranken an die Seite stellen. Ich wähle eine solche, die mir in frischer Erinnerung ist, auch
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin