Seite - 150 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Vielleicht hat nun die viel befehdete Psychoanalyse auch Freunde unter Ihnen, welche es gern
sehen, wenn sie sich auch von anderer, von der therapeutischen Seite her rechtfertigen ließe. Sie
wissen, daß unsere bisherige psychiatrische Therapie Wahnideen nicht zu beeinflussen vermag.
Kann es vielleicht die Psychoanalyse dank ihrer Einsicht in den Mechanismus dieser Symptome?
Nein, meine Herren, sie kann es nicht; sie ist gegen diese Leiden – vorläufig wenigstens – ebenso
ohnmächtig wie jede andere Therapie. Wir können zwar verstehen, was in dem Kranken vor sich
gegangen ist, aber wir haben kein Mittel, um es den Kranken selbst verstehen zu machen. Sie
haben ja gehört, daß ich die Analyse dieser Wahnidee nicht über die ersten Ansätze hinaus
fördern konnte. Werden Sie darum behaupten wollen, daß die Analyse solcher Fälle verwerflich
ist, weil sie unfruchtbar bleibt? Ich glaube doch nicht. Wir haben das Recht, ja die Pflicht, die
Forschung ohne Rücksicht auf einen unmittelbaren Nutzeffekt zu betreiben. Am Ende – wir
wissen nicht, wo und wann – wird sich jedes Stückchen Wissen in Können umsetzen, auch in
therapeutisches Können. Zeigte sich die Psychoanalyse bei allen anderen Formen nervöser und
psychischer Erkrankung ebenso erfolglos wie bei den Wahnideen, so bliebe sie doch als
unersetzliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung voll gerechtfertigt. Wir würden dann
allerdings nicht in die Lage kommen, sie auszuüben; das Menschenmaterial, an dem wir lernen
wollen, das lebt, seinen eigenen Willen hat und seiner Motive bedarf, um bei der Arbeit mitzutun,
würde sich uns verweigern. Lassen Sie mich darum für heute mit der Mitteilung schließen, daß es
umfassende Gruppen von nervösen Störungen gibt, bei denen sich die Umsetzung unseres
besseren Verstehens in therapeutisches Können tatsächlich erwiesen hat, und daß wir bei diesen
sonst schwer zugänglichen Erkrankungen unter gewissen Bedingungen Erfolge erzielen, die
hinter keinen anderen auf dem Gebiete der internen Therapie zurückstehen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin