Seite - 153 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Vielleicht wollen Sie im Hinblick auf unsere Besprechungen vorher wissen, wie sich die
gegenwärtige Psychiatrie zu den Problemen der Zwangsneurose verhält. Das ist aber ein
armseliges Kapitel. Die Psychiatrie gibt den verschiedenen Zwängen Namen, sagt sonst weiter
nichts über sie. Dafür betont sie, daß die Träger solcher Symptome »Degenerierte« sind. Das ist
wenig Befriedigung, eigentlich ein Werturteil, eine Verurteilung anstatt einer Erklärung. Wir
sollen uns etwa denken, bei Leuten, die aus der Art geschlagen sind, kämen eben alle möglichen
Sonderbarkeiten vor. Nun glauben wir ja, daß Personen, die solche Symptome entwickeln, von
Natur aus etwas anders sein müssen als andere Menschen. Aber wir möchten fragen: Sind sie
mehr »degeneriert« als andere Nervöse, z. B. die Hysteriker oder als die an Psychosen
Erkrankenden? Die Charakteristik ist offenbar wieder zu allgemein. Ja man kann bezweifeln, ob
sie auch nur berechtigt ist, wenn man erfährt, daß solche Symptome auch bei ausgezeichneten
Menschen von besonders hoher und für die Allgemeinheit bedeutsamer Leistungsfähigkeit
vorkommen. Für gewöhnlich erfahren wir ja, dank ihrer eigenen Diskretion und der Verlogenheit
ihrer Biographen von unseren vorbildlich großen Männern wenig Intimes, aber es kommt doch
vor, daß einer ein Wahrheitsfanatiker ist wie Emile Zola, und dann hören wir von ihm, an wieviel
sonderbaren Zwangsgewohnheiten er sein Leben über gelitten hat[13].
Die Psychiatrie hat sich da die Auskunft geschaffen, von Dégénérés superieurs zu sprechen.
Schön – aber durch die Psychoanalyse haben wir die Erfahrung gemacht, daß man diese
sonderbaren Zwangssymptome wie andere Leiden und wie bei anderen nicht degenerierten
Menschen dauernd beseitigen kann. Mir selbst ist solches wiederholt gelungen. Ich will Ihnen nur
zwei Beispiele von Analyse eines Zwangssymptoms mitteilen, eines aus alter Beobachtung, das
ich durch kein schöneres zu ersetzen weiß, und ein kürzlich gewonnenes. Ich beschränke mich
auf eine so geringe Anzahl, weil man bei einer solchen Mitteilung sehr weitläufig werden, in alle
Einzelheiten eingehen muß.
Eine nahe an 30 Jahre alte Dame, die an den schwersten Zwangserscheinungen litt und der ich
vielleicht geholfen hätte, wenn ein tückischer Zufall nicht meine Arbeit zunichte gemacht hätte –
vielleicht erzähle ich Ihnen noch davon –, führte unter anderen folgende merkwürdige
Zwangshandlung vielmals am Tage aus. Sie lief aus ihrem Zimmer in ein anderes nebenan, stellte
sich dort an eine bestimmte Stelle bei dem in der Mitte stehenden Tisch hin, schellte ihrem
Stubenmädchen, gab ihr einen gleichgültigen Auftrag oder entließ sie auch ohne solchen und lief
dann wieder zurück. Das war nun gewiß kein schweres Leidenssymptom, aber es durfte doch die
Wißbegierde reizen. Die Aufklärung ergab sich auch auf die unbedenklichste, einwandfreieste
Weise unter Ausschluß jedes Beitrages von Seiten des Arztes. Ich weiß gar nicht, wie ich zu einer
Vermutung über den Sinn dieser Zwangshandlung, zu einem Vorschlag ihrer Deutung hätte
kommen können. Sooft ich die Kranke gefragt hatte: Warum tun Sie das? Was hat das für einen
Sinn? – hatte sie geantwortet: Ich weiß es nicht. Aber eines Tages, nachdem es mir gelungen war,
ein großes prinzipielles Bedenken bei ihr niederzukämpfen, wurde sie plötzlich wissend und
erzählte, was zur Zwangshandlung gehörte. Sie hatte vor mehr als zehn Jahren einen weitaus
älteren Mann geheiratet, der sich in der Hochzeitsnacht impotent erwies. Er war ungezählte Male
in dieser Nacht aus seinem Zimmer in ihres gelaufen, um den Versuch zu wiederholen, aber
jedesmal erfolglos. Am Morgen sagte er ärgerlich: Da muß man sich ja vor dem Stubenmädchen
schämen, wenn sie das Bett macht, ergriff eine Flasche roter Tinte, die zufällig im Zimmer war,
und goß ihren Inhalt aufs Bettuch, aber nicht gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen
solchen Fleck gehabt hätte. Ich verstand anfangs nicht, was diese Erinnerung mit der fraglichen
Zwangshandlung zu tun haben sollte, da ich nur in dem wiederholten
Aus-einem-Zimmer-in-das-andere-Laufen eine Übereinstimmung fand und etwa noch im
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin