Seite - 155 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Und noch eines! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie uns diese unscheinbare Zwangshandlung in
die Intimitäten der Patientin eingeführt hat? Eine Frau hat nicht viel Intimeres zu erzählen als die
Geschichte ihrer Hochzeitsnacht, und daß wir gerade auf Intimitäten des Geschlechtslebens
gekommen sind, sollte das zufällig und ohne weiteren Belang sein? Es könnte freilich die Folge
der Auswahl sein, die ich diesmal getroffen habe. Urteilen wir nicht zu rasch und wenden wir uns
dem zweiten Beispiel zu, welches von ganz anderer Art ist, ein Muster einer häufig
vorkommenden Gattung, nämlich ein Schlafzeremoniell.
Ein 19jähriges, üppiges, begabtes Mädchen, das einzige Kind seiner Eltern, denen es an Bildung
und intellektueller Regsamkeit überlegen ist, war als Kind wild und übermütig und hat sich im
Laufe der letzten Jahre ohne sichtbare äußere Einwirkung zu einer Nervösen umgewandelt. Sie
ist besonders gegen ihre Mutter sehr reizbar, immer unzufrieden, deprimiert, neigt zur
Unentschlossenheit und zum Zweifel und macht endlich das Geständnis, daß sie auf Plätzen und
in größeren Straßen nicht mehr allein gehen kann. Wir werden uns mit ihrem komplizierten
Krankheitszustand, der zum mindesten zwei Diagnosen erheischt, die einer Agoraphobie und
einer Zwangsneurose, nicht viel abgeben, sondern nur dabei verweilen, daß dieses Mädchen auch
ein Schlafzeremoniell entwickelt hat, unter dem sie ihre Eltern leiden läßt. Man kann sagen, in
gewissem Sinne hat jeder Normale sein Schlafzeremoniell oder er hält auf die Herstellung von
gewissen Bedingungen, deren Nichterfüllung ihn am Einschlafen stört; er hat den Übergang aus
dem Wachleben in den Schlafzustand in gewisse Formen gebracht, die er allabendlich in gleicher
Weise wiederholt. Aber alles, was der Gesunde an Schlafbedingung fordert, läßt sich rationell
verstehen, und wenn die äußeren Umstände eine Änderung notwendig machen, so fügt er sich
leicht und ohne Zeitaufwand. Das pathologische Zeremoniell ist aber unnachgiebig, es weiß sich
mit den größten Opfern durchzusetzen, es deckt sich gleichfalls mit einer rationellen Begründung
und scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung nur durch eine gewisse übertriebene Sorgfalt
vom Normalen zu entfernen. Sieht man aber näher zu, so kann man bemerken, daß die Decke zu
kurz ist, daß das Zeremoniell Bestimmungen umfaßt, die weit über die rationelle Begründung
hinausgehen, und andere, die ihr direkt widersprechen. Unsere Patientin schützt als Motiv ihrer
nächtlichen Vorsichten vor, daß sie zum Schlafen Ruhe braucht und alle Quellen des Geräusches
ausschließen muß. In dieser Absicht tut sie zweierlei: Die große Uhr in ihrem Zimmer wird zum
Stehen gebracht, alle anderen Uhren aus dem Zimmer entfernt, nicht einmal ihre winzige
Armbanduhr wird im Nachtkästchen geduldet. Blumentöpfe und Vasen werden auf dem
Schreibtische so zusammengestellt, daß sie nicht zur Nachtzeit herunterfallen, zerbrechen und sie
im Schlafe stören können. Sie weiß, daß diese Maßregeln durch das Gebot der Ruhe nur eine
scheinbare Rechtfertigung finden können; die kleine Uhr würde man nicht ticken hören, auch
wenn sie auf dem Nachtkästchen liegen bliebe, und wir haben alle die Erfahrung gemacht, daß
das regelmäßige Ticken einer Pendeluhr niemals eine Schlafstörung macht, sondern eher
einschläfernd wirkt. Sie gibt auch zu, daß die Befürchtung, Blumentöpfe und Vasen könnten, an
ihrem Platze gelassen, zur Nachtzeit von selbst herunterfallen und zerbrechen, jeder
Wahrscheinlichkeit entbehrt. Für andere Bestimmungen des Zeremoniells wird die Anlehnung an
das Ruhegebot fallengelassen. Ja, die Forderung, daß die Türe zwischen ihrem Zimmer und dem
Schlafzimmer der Eltern halb offen bleibe, deren Erfüllung sie dadurch sichert, daß sie
verschiedene Gegenstände in die geöffnete Türe rückt, scheint im Gegenteil eine Quelle von
störenden Geräuschen zu aktivieren. Die wichtigsten Bestimmungen beziehen sich aber auf das
Bett selbst. Das Polster am Kopfende des Bettes darf die Holzwand des Bettes nicht berühren.
Das kleine Kopfpolsterchen darf auf diesem großen Polster nicht anders liegen, als indem es eine
Raute bildet; ihren Kopf legt sie dann genau in den Längsdurchmesser der Raute. Die Federdecke
(»Duchent«, wie wir in Österreich sagen) muß vor dem Zudecken so geschüttelt werden, daß ihr
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin