Seite - 157 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Abweisung der Angst zu bluten wie der entgegengesetzten, nicht zu bluten. Mit der
Geräuschverhütung, welcher sie diese Maßnahmen unterordnete, hatten sie nur entfernt etwas zu
tun.
Den zentralen Sinn ihres Zeremoniells erriet sie eines Tages, als sie plötzlich die Vorschrift, das
Polster dürfe die Bettwand nicht berühren, verstand. Das Polster sei ihr immer ein Weib gewesen,
sagte sie, die aufrechte Holzwand ein Mann. Sie wollte also – auf magische Weise, dürfen wir
einschalten – Mann und Weib auseinanderhalten, das heißt die Eltern voneinander trennen, nicht
zum ehelichen Verkehr kommen lassen. Dasselbe Ziel hatte sie in früheren Jahren vor der
Einrichtung des Zeremoniells auf direktere Weise zu erreichen gesucht. Sie hatte Angst simuliert
oder eine vorhandene Angstneigung dahin ausgebeutet, daß die Verbindungstüre zwischen dem
Schlafzimmer der Eltern und dem Kinderzimmer nicht geschlossen werden dürfe. Dies Gebot
war ja noch in ihrem heutigen Zeremoniell erhalten geblieben. Auf solche Art schaffte sie sich
die Gelegenheit, die Eltern zu belauschen, zog sich aber in der Ausnützung derselben einmal eine
durch Monate anhaltende Schlaflosigkeit zu. Nicht zufrieden mit solcher Störung der Eltern
setzte sie es dann zeitweise durch, daß sie im Ehebett selbst zwischen Vater und Mutter schlafen
durfte. »Polster« und »Holzwand« konnten dann wirklich nicht zusammenkommen. Endlich, als
sie schon so groß war, daß ihr Körperliches nicht mehr bequem im Bette zwischen den Eltern
Platz finden konnte, erreichte sie es durch bewußte Simulation von Angst, daß die Mutter den
Schlafplatz mit ihr tauschte und ihr die eigene Stelle neben dem Vater abtrat. Diese Situation war
gewiß der Ausgang von Phantasien geworden, deren Nachwirkung man im Zeremoniell verspürt.
Wenn ein Polster ein Weib war, so hatte auch das Schütteln der Federdecke, bis alle Federn unten
waren und dort eine Anschwellung hervorriefen, einen Sinn. Es hieß, das Weib schwanger
machen; aber sie versäumte es nicht, diese Schwangerschaft wieder wegzustreichen, denn sie
hatte Jahre hindurch unter der Furcht gestanden, der Verkehr der Eltern werde ein anderes Kind
zur Folge haben und ihr so eine Konkurrenz bescheren. Anderseits, wenn das große Polster ein
Weib, die Mutter, war, so konnte das kleine Kopfpölsterchen nur die Tochter vorstellen. Warum
mußte dieses Polster als Raute gelegt werden und ihr Kopf genau in die Mittellinie derselben
kommen? Sie ließ sich leicht daran erinnern, daß die Raute die an allen Mauern wiederholte Rune
des offenen weiblichen Genitales sei. Sie selbst spielte dann den Mann, den Vater, und ersetzte
durch ihren Kopf das männliche Glied. (Vgl. die Symbolik des Köpfens für Kastration.)
Wüste Dinge, werden Sie sagen, die da in dem Kopf des jungfräulichen Mädchens spuken sollen.
Ich gebe es zu, aber vergessen Sie nicht, ich habe diese Dinge nicht gemacht, sondern bloß
gedeutet. Solch ein Schlafzeremoniell ist auch etwas Sonderbares, und Sie werden die
Entsprechung zwischen dem Zeremoniell und den Phantasien, die uns die Deutung ergibt, nicht
verkennen dürfen. Wichtiger ist mir aber, daß Sie bemerken, es habe sich da nicht eine einzige
Phantasie im Zeremoniell niedergeschlagen, sondern eine Anzahl von solchen, die allerdings
irgendwo ihren Knotenpunkt haben. Auch daß die Vorschriften des Zeremoniells die sexuellen
Wünsche bald positiv, bald negativ wiedergeben, zum Teil der Vertretung und zum Teil der
Abwehr derselben dienen.
Man könnte auch aus der Analyse dieses Zeremoniells mehr machen, wenn man es in die richtige
Verknüpfung mit den anderen Symptomen der Kranken brächte. Aber unser Weg führt uns nicht
dahin. Lassen Sie sich die Andeutung genügen, daß dieses Mädchen einer erotischen Bindung an
den Vater verfallen ist, deren Anfänge in frühe Kinderjahre zurückgehen. Vielleicht benimmt sie
sich auch darum so unfreundlich gegen ihre Mutter. Wir können auch nicht übersehen, daß uns
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin