Seite - 162 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Gegenwart und Zukunft aufgeben und dauernd in der seelischen Beschäftigung mit der
Vergangenheit verharren, aber diese Unglücklichen brauchen dabei nicht neurotisch zu werden.
Wir wollen also diesen einen Zug für die Charakteristik der Neurose nicht überschätzen, so
regelmäßig und so bedeutsam er sonst sein mag.
Nun aber zum zweiten Ergebnis unserer Analysen, für welches wir eine nachträgliche
Einschränkung nicht zu besorgen haben. Wir haben von unserer ersten Patientin mitgeteilt,
welche sinnlose Zwangshandlung sie ausführte und welche intime Lebenserinnerung sie als
dazugehörig erzählte, haben auch später das Verhältnis zwischen den beiden untersucht und die
Absicht der Zwangshandlung aus dieser Beziehung zur Erinnerung erraten. Aber ein Moment
haben wir völlig beiseite gelassen, das unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Solange die
Patientin auch die Zwangshandlung wiederholte, wußte sie nichts davon, daß sie mit ihr an jenes
Erlebnis anknüpfte. Der Zusammenhang zwischen den beiden war ihr verborgen; sie mußte
wahrheitsgemäß antworten, sie wisse nicht, unter welchen Antrieben sie dies tue. Dann traf es
sich unter dem Einflüsse der Kurarbeit plötzlich einmal, daß sie jenen Zusammenhang auffand
und mitteilen konnte. Aber noch immer wußte sie von der Absicht nichts, in deren Dienst sie die
Zwangshandlung ausführte, der Absicht, ein peinliches Stück der Vergangenheit zu korrigieren
und den von ihr geliebten Mann auf ein höheres Niveau zu stellen. Es dauerte ziemlich lange und
kostete viel Mühe, bis sie begriffen und mir zugestanden hatte, daß ein solches Motiv allein die
treibende Kraft der Zwangshandlung gewesen sein könnte.
Der Zusammenhang mit der Szene nach der verunglückten Hochzeitsnacht und das zärtliche
Motiv der Kranken ergeben mitsammen das, was wir den »Sinn« der Zwangshandlung genannt
haben. Aber dieser Sinn war ihr nach beiden Richtungen, dem »woher« wie dem »wozu«,
unbekannt gewesen, während sie die Zwangshandlung ausführte. Es hatten also seelische
Vorgänge in ihr gewirkt, die Zwangshandlung war eben deren Wirkung; sie hatte die Wirkung in
normaler seelischer Verfassung wahrgenommen, aber nichts von den seelischen Vorbedingungen
dieser Wirkung war zur Kenntnis ihres Bewußtseins gekommen. Sie hatte sich ganz ebenso
benommen wie ein Hypnotisierter, dem Bernheim den Auftrag erteilte, fünf Minuten nach seinem
Erwachen im Krankensaal einen Regenschirm aufzuspannen, der diesen Auftrag im Wachen
ausführte, aber kein Motiv für sein Tun anzugeben wußte. Einen solchen Sachverhalt haben wir
im Auge, wenn wir von der Existenz unbewußter seelischer Vorgänge reden. Wir dürfen alle
Welt herausfordern, von diesem Sachverhalt auf eine korrektere wissenschaftliche Art
Rechenschaft zu geben, und wollen dann gern auf die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge
verzichten. Bis dahin werden wir aber an dieser Annahme festhalten, und wir müssen es mit
resigniertem Achselzucken als unbegreiflich abweisen, wenn uns jemand einwenden will, das
Unbewußte sei hier nichts im Sinne der Wissenschaft Reales, ein Notbehelf, une façon de parler.
Etwas nicht Reales, von dem so real greifbare Wirkungen ausgehen wie eine Zwangshandlung!
Im Grunde das nämliche treffen wir bei unserer zweiten Patientin an. Sie hat ein Gebot
geschaffen, das Polster dürfe die Bettwand nicht berühren, und muß dieses Gebot befolgen, aber
sie weiß nicht, woher es stammt, was es bedeutet und welchen Motiven es seine Macht verdankt.
Ob sie es selbst als indifferent betrachtet oder sich dagegen sträubt, dagegen wütet, sich
vornimmt, es zu übertreten, ist für seine Ausführung gleichgültig. Es muß befolgt werden, und sie
fragt sich vergeblich, warum. Man muß doch bekennen, in diesen Symptomen der
Zwangsneurose, diesen Vorstellungen und Impulsen, die auftauchen, man weiß nicht woher, sich
so resistent gegen alle Einflüsse des sonst normalen Seelenlebens benehmen, den Kranken selbst
den Eindruck machen, als wären sie übergewaltige Gäste aus einer fremden Welt, Unsterbliche,
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin