Seite - 165 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Veränderung im Kranken beruhen muß, wie sie nur durch eine psychische Arbeit mit
bestimmtem Ziel hervorgerufen werden kann. Hier stehen wir vor Problemen, die sich uns bald
zu einer Dynamik der Symptombildung zusammenfassen werden.
Meine Herren! Ich muß jetzt die Frage aufwerfen, ist Ihnen das, was ich Ihnen sage, nicht zu
dunkel und zu kompliziert? Verwirre ich Sie nicht dadurch, daß ich so oft zurücknehme und
einschränke, Gedankengänge anspinne und dann fallenlasse? Es sollte mir leid tun, wenn es so
wäre. Ich habe aber eine starke Abneigung gegen Vereinfachungen auf Kosten der
Wahrheitstreue, habe nichts dagegen, wenn Sie den vollen Eindruck von der Vielseitigkeit und
Verwobenheit des Gegenstandes empfangen, und denke mir auch, es ist kein Schaden dabei,
wenn ich Ihnen zu jedem Punkte mehr sage, als Sie augenblicklich verwerten können. Ich weiß
doch, daß jeder Hörer und Leser das ihm Dargebotene in Gedanken zurichtet, verkürzt,
vereinfacht und herauszieht, was er behalten möchte. Bis zu einem gewissen Maß ist es wohl
richtig, daß um so mehr übrig bleibt, je reichlicher vorhanden war. Lassen Sie mich hoffen, daß
Sie das Wesentliche an meinen Mitteilungen, das über den Sinn der Symptome, über das
Unbewußte und die Beziehung zwischen beiden, trotz allen Beiwerkes klar erfaßt haben. Sie
haben wohl auch verstanden, daß unsere weitere Bemühung nach zwei Richtungen gehen wird,
erstens um zu erfahren, wie Menschen erkranken, zur Lebenseinstellung der Neurose gelangen
können, was ein klinisches Problem ist, und zweitens, wie sich aus den Bedingungen der Neurose
die krankhaften Symptome entwickeln, was ein Problem der seelischen Dynamik bleibt. Für die
beiden Probleme muß es auch irgendwo einen Treffpunkt geben.
Ich will auch heute nicht weiter gehen, aber da unsere Zeit noch nicht um ist, gedenke ich, Ihre
Aufmerksamkeit auf einen anderen Charakter unserer beiden Analysen zu lenken, dessen volle
Würdigung wiederum erst später erfolgen kann, auf die Erinnerungslücken oder Amnesien. Sie
haben gehört, daß man die Aufgabe der psychoanalytischen Behandlung in die Formel fassen
kann, alles pathogene Unbewußte in Bewußtes umzusetzen. Nun werden Sie vielleicht erstaunt
sein zu erfahren, daß man diese Formel auch durch die andere ersetzen kann, alle
Erinnerungslücken der Kranken auszufüllen, seine Amnesien aufzuheben. Das käme auf dasselbe
hinaus. Den Amnesien des Neurotikers wird also eine wichtige Beziehung zur Entstehung seiner
Symptome zugeschrieben. Wenn Sie aber den Fall unserer ersten Analyse in Betracht ziehen,
werden Sie diese Einschätzung der Amnesie nicht berechtigt finden. Die Kranke hat die Szene,
an welche ihre Zwangshandlung anknüpft, nicht vergessen, im Gegenteil in lebhafter Erinnerung
bewahrt, und etwas anderes Vergessenes ist bei der Entstehung dieses Symptoms auch nicht im
Spiele. Minder deutlich, aber doch im ganzen analog ist die Sachlage bei unserer zweiten
Patientin, dem Mädchen mit dem Zwangszeremoniell. Auch sie hat das Benehmen ihrer früheren
Jahre, die Tatsachen, daß sie auf der Eröffnung der Türe zwischen dem Schlafzimmer der Eltern
und ihrem eigenen bestand und daß sie die Mutter aus ihrer Stelle im Ehebett vertrieb, eigentlich
nicht vergessen; sie erinnert sich daran sehr deutlich, wenn auch zögernd und ungern. Als
auffällig können wir nur betrachten, daß die erste Patientin, wenn sie ihre Zwangshandlung
ungezählte Male ausführte, nicht ein Mal an deren Ähnlichkeit mit dem Erlebnis nach der
Hochzeitsnacht gemahnt wurde und daß sich diese Erinnerung auch nicht einstellte, als sie durch
direkte Fragen zur Nachforschung über die Motivierung der Zwangshandlung aufgefordert
wurde. Dasselbe gilt für das Mädchen, bei dem das Zeremoniell und seine Anlässe überdies auf
die nämliche, allabendlich wiederholte Situation bezogen wird. In beiden Fällen besteht keine
eigentliche Amnesie, kein Erinnerungsausfall, aber es ist ein Zusammenhang unterbrochen, der
die Reproduktion, das Wiederauftauchen in der Erinnerung, herbeiführen sollte. Eine derartige
Störung des Gedächtnisses reicht für die Zwangsneurose hin, bei der Hysterie ist es anders. Diese
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin