Seite - 225 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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vor, zu anderen Ärzten zu gehen, die sich nicht so eifrig nach ihrem Sexualleben erkundigten.
Es konnte mir auch damals nicht entgehen, daß die Verursachung der Erkrankung nicht immer
auf das Sexualleben hinwies. Der eine war zwar direkt an einer sexuellen Schädlichkeit erkrankt,
der andere aber, weil er sein Vermögen verloren oder eine erschöpfende organische Krankheit
durchgemacht hatte. Die Erklärung für diese Mannigfaltigkeit ergab sich später, als wir in die
vermuteten Wechselbeziehungen zwischen dem Ich und der Libido Einsicht bekamen, und sie
wurde um so befriedigender, je tiefer diese Einsicht reichte. Eine Person erkrankt nur dann
neurotisch, wenn ihr Ich die Fähigkeit eingebüßt hat, die Libido irgendwie unterzubringen. Je
stärker das Ich ist, desto leichter wird ihm die Erledigung dieser Aufgabe; jede Schwächung des
Ichs aus irgendeiner Ursache muß dieselbe Wirkung tun wie eine übergroße Steigerung des
Anspruches der Libido, also die neurotische Erkrankung ermöglichen. Es gibt noch andere und
intimere Beziehungen zwischen Ich und Libido, die aber noch nicht in unseren Gesichtskreis
getreten sind und die ich darum zur Erklärung hier nicht heranziehe. Wesentlich und aufklärend
für uns bleibt, daß in jedem Falle und gleichgültig, auf welchem Wege die Erkrankung hergestellt
wurde, die Symptome der Neurose von der Libido bestritten werden und so eine abnorme
Verwendung derselben bezeugen.
Nun muß ich Sie aber auf den entscheidenden Unterschied zwischen den Symptomen der
Aktualneurosen und denen der Psychoneurosen aufmerksam machen, von denen uns die erste
Gruppe, die der Übertragungsneurosen, bisher so viel beschäftigt hat. In beiden Fällen gehen die
Symptome aus der Libido hervor, sind also abnorme Verwendungen derselben,
Befriedigungsersatz. Aber die Symptome der Aktualneurosen, ein Kopfdruck, eine
Schmerzempfindung, ein Reizzustand in einem Organ, die Schwächung oder Hemmung einer
Funktion haben keinen »Sinn«, keine psychische Bedeutung. Sie äußern sich nicht nur
vorwiegend am Körper, wie auch z. B. die hysterischen Symptome, sondern sie sind auch selbst
durchaus körperliche Vorgänge, bei deren Entstehung alle die komplizierten seelischen
Mechanismen, die wir kennengelernt haben, entfallen. Sie sind also wirklich das, wofür man die
psychoneurotischen Symptome so lange gehalten hat. Aber wie können sie dann Verwendungen
der Libido entsprechen, die wir als eine im Psychischen wirkende Kraft kennengelernt haben?
Nun, meine Herren, das ist sehr einfach. Lassen Sie mich einen der allerersten Einwürfe
auffrischen, die man gegen die Psychoanalyse vorgebracht hat. Man sagte damals, sie bemühe
sich um eine rein psychologische Theorie der neurotischen Erscheinungen, und das sei ganz
aussichtslos, denn psychologische Theorien könnten nie eine Krankheit erklären. Man hatte zu
vergessen beliebt, daß die Sexualfunktion nichts rein Seelisches ist, ebensowenig wie etwas bloß
Somatisches. Sie beeinflußt das körperliche wie das seelische Leben. Haben wir in den
Symptomen der Psychoneurosen die Äußerungen der Störung in ihren psychischen Wirkungen
kennengelernt, so werden wir nicht erstaunt sein, in den Aktualneurosen die direkten somatischen
Folgen der Sexualstörungen zu finden.
Für die Auffassung der letzteren gibt uns die medizinische Klinik einen wertvollen, auch von
verschiedenen Forschern berücksichtigten Fingerzeig. Die Aktualneurosen bekunden in den
Einzelheiten ihrer Symptomatik, aber auch in der Eigentümlichkeit, alle Organsysteme und alle
Funktionen zu beeinflussen, eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Krankheitszuständen, die
durch den chronischen Einfluß von fremden Giftstoffen und durch die akute Entziehung
derselben entstehen, mit den Intoxikationen und Abstinenzzuständen. Noch enger werden die
beiden Gruppen von Affektionen aneinandergerückt durch die Vermittlung von solchen
Zuständen, die wir wie den M. Basedowii gleichfalls auf die Wirkung von Giftstoffen zu
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin