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beziehen gelernt haben, aber von Giften, die nicht als fremd in den Körper eingeführt werden,
sondern in seinem eigenen Stoffwechsel entstehen. Ich meine, wir können nach diesen Analogien
nicht umhin, die Neurosen als Folgen von Störungen in einem Sexualstoffwechsel anzusehen, sei
es, daß von diesen Sexualtoxinen mehr produziert wird, als die Person bewältigen kann, sei es,
daß innere und selbst psychische Verhältnisse die richtige Verwendung dieser Stoffe
beeinträchtigen. Die Volksseele hat von jeher solchen Annahmen für die Natur des sexuellen
Verlangens gehuldigt, sie nennt die Liebe einen »Rausch« und läßt die Verliebtheit durch
Liebestränke entstehen, wobei sie das wirkende Agens gewissermaßen nach außen verlegt. Für
uns wäre hier der Anlaß, der erogenen Zonen und der Behauptung zu gedenken, daß die
Sexualerregung in den verschiedensten Organen entstehen kann. Im übrigen aber ist uns das Wort
»Sexualstoffwechsel« oder »Chemismus der Sexualität« ein Fach ohne Inhalt; wir wissen nichts
darüber und können uns nicht einmal entscheiden, ob wir zwei Sexualstoffe annehmen sollen, die
dann »männlich« und »weiblich« heißen würden, oder ob wir uns mit einem Sexualtoxin
bescheiden können, in dem wir den Träger aller Reizwirkungen der Libido zu erblicken haben.
Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau,
der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll; aber wir kennen dieses
noch nicht.
Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den sie behandelt, sondern durch
die Technik, mit der sie arbeitet, charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte,
Religionswissenschaft und Mythologie ebensowohl anwenden wie auf die Neurosenlehre, ohne
ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes als die Aufdeckung des
Unbewußten im Seelenleben. Die Probleme der Aktualneurosen, deren Symptome
wahrscheinlich durch direkte toxische Schädigung entstehen, bieten der Psychoanalyse keine
Angriffspunkte, sie kann nur wenig für deren Aufklärung leisten und muß diese Aufgabe der
biologisch-medizinischen Forschung überlassen. Sie verstehen jetzt vielleicht besser, warum ich
keine andere Anordnung meines Stoffes gewählt habe. Hätte ich Ihnen eine »Einführung in die
Neurosenlehre« zugesagt, so wäre der Weg von den einfachen Formen der Aktualneurosen zu
den komplizierteren psychischen Erkrankungen durch Libidostörung der unzweifelhaft richtige
gewesen. Ich hätte bei den ersteren zusammentragen müssen, was wir von verschiedenen Seiten
her erfahren haben oder zu wissen glauben, und bei den Psychoneurosen wäre dann die
Psychoanalyse als das wichtigste technische Hilfsmittel zur Durchleuchtung dieser Zustände zur
Sprache gekommen. Ich hatte aber eine »Einführung in die Psychoanalyse« beabsichtigt und
angekündigt; es war mir wichtiger, daß Sie eine Vorstellung von der Psychoanalyse, als daß Sie
gewisse Kenntnisse von den Neurosen gewinnen, und da durfte ich die für die Psychoanalyse
unfruchtbaren Aktualneurosen nicht mehr in den Vordergrund rücken. Ich glaube auch, ich habe
die für Sie günstigere Wahl getroffen, denn die Psychoanalyse verdient wegen ihrer
tiefgreifenden Voraussetzungen und weitumfassenden Beziehungen einen Platz im Interesse
eines jeden Gebildeten; die Neurosenlehre aber ist ein Kapitel der Medizin wie andere auch.
Sie werden indes mit Recht erwarten, daß wir auch für die Aktualneurosen einiges Interesse
aufbringen müssen. Schon ihr intimer klinischer Zusammenhang mit den Psychoneurosen nötigt
uns dazu. Ich will Ihnen also berichten, daß wir drei reine Formen der Aktualneurosen
unterscheiden: die Neurasthenie, die Angstneurose und die Hypochondrie. Auch diese
Aufstellung ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Die Namen sind zwar alle im Gebrauch, aber
ihr Inhalt ist unbestimmt und schwankend. Es gibt auch Ärzte, die jeder Sonderung in der wirren
Welt von neurotischen Erscheinungen, jeder Heraushebung von klinischen Einheiten,
Krankheitsindividuen, widerstreben und selbst die Scheidung von Aktual- und Psychoneurosen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin