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nicht anerkennen. Ich meine, sie gehen zu weit und haben nicht den Weg eingeschlagen, der zum
Fortschritt führt. Die genannten Formen von Neurose kommen gelegentlich rein vor; häufiger
vermengen sie sich allerdings miteinander und mit einer psychoneurotischen Affektion. Dieses
Vorkommen braucht uns nicht zu bewegen, ihre Sonderung aufzugeben. Denken Sie an den
Unterschied von Mineralkunde und Gesteinkunde in der Mineralogie. Die Mineralien werden als
Individuen beschrieben, gewiß mit Anlehnung an den Umstand, daß sie häufig als Kristalle, von
ihrer Umgebung scharf abgegrenzt, auftreten. Die Gesteine bestehen aus Gemengen von
Mineralien, die sicherlich nicht zufällig, sondern infolge ihrer Entstehungsbedingungen
zusammengetroffen sind. In der Neurosenlehre verstehen wir noch zu wenig von dem Hergang
der Entwicklung, um etwas der Gesteinlehre Ähnliches zu schaffen. Wir tun aber gewiß das
Richtige, wenn wir zunächst aus der Masse die für uns kenntlichen klinischen Individuen
isolieren, die den Mineralien vergleichbar sind.
Eine beachtenswerte Beziehung zwischen den Symptomen der Aktual- und der Psychoneurosen
bringt uns noch einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis der Symptombildung bei den letzteren; das
Symptom der Aktualneurose ist nämlich häufig der Kern und die Vorstufe des
psychoneurotischen Symptoms. Man beobachtet ein solches Verhältnis am deutlichsten zwischen
der Neurasthenie und der »Konversionshysterie« genannten Übertragungsneurose, zwischen der
Angstneurose und der Angsthysterie, aber auch zwischen der Hypochondrie und den später als
Paraphrenie (Dementia praecox und Paranoia) zu erwähnenden Formen. Nehmen wir als Beispiel
den Fall eines hysterischen Kopf- oder Kreuzschmerzes. Die Analyse zeigt uns, daß er durch
Verdichtung und Verschiebung zum Befriedigungsersatz für eine ganze Reihe von libidinösen
Phantasien oder Erinnerungen geworden ist. Aber dieser Schmerz war auch einmal real, und
damals war er ein direkt sexualtoxisches Symptom, der körperliche Ausdruck einer libidinösen
Erregung. Wir wollen keineswegs behaupten, daß alle hysterischen Symptome einen solchen
Kern enthalten, aber es bleibt bestehen, daß es besonders häufig der Fall ist und daß alle –
normalen oder pathologischen – Beeinflussungen des Körpers durch die libidinöse Erregung
geradezu für die Symptombildung der Hysterie bevorzugt sind. Sie spielen dann die Rolle jenes
Sandkorns, welches das Muscheltier mit den Schichten von Perlmuttersubstanz umhüllt hat. In
derselben Weise werden die vorübergehenden Zeichen der sexuellen Erregung, welche den
Geschlechtsakt begleiten, von der Psychoneurose als das bequemste und geeignetste Material zur
Symptombildung verwendet.
Ein ähnlicher Vorgang bietet ein besonderes diagnostisches und therapeutisches Interesse. Es
kommt bei Personen, die zur Neurose disponiert sind, ohne gerade an einer floriden Neurose zu
leiden, gar nicht selten vor, daß eine krankhafte Körperveränderung – etwa durch Entzündung
oder Verletzung – die Arbeit der Symptombildung weckt, so daß diese das ihr von der Realität
gegebene Symptom eiligst zum Vertreter aller jener unbewußten Phantasien macht, die nur
darauf gelauert hatten, sich eines Ausdrucksmittels zu bemächtigen. Der Arzt wird in solchem
Falle bald den einen, bald den anderen Weg der Therapie einschlagen, entweder die organische
Grundlage wegschaffen wollen, ohne sich um deren lärmende neurotische Verarbeitung zu
bekümmern, oder die zur Gelegenheit entstandene Neurose bekämpfen und deren organischen
Anlaß gering achten. Der Erfolg wird bald dieser bald jener Art der Bemühung recht oder unrecht
geben; allgemeine Vorschriften lassen sich für solche Mischfälle kaum aufstellen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin