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Traumtheorien und Funktion des Traumes
Eine Aussage über den Traum, welche möglichst viele der beobachteten Charaktere desselben
von einem Gesichtspunkte aus zu erklären versucht und gleichzeitig die Stellung des Traumes zu
einem umfassenderen Erscheinungsgebiet bestimmt, wird man eine Traumtheorie heißen dürfen.
Die einzelnen Traumtheorien werden sich darin unterscheiden, daß sie den oder jenen Charakter
des Traumes zum wesentlichen erheben, Erklärungen und Beziehungen an ihn anknüpfen lassen.
Eine Funktion, d.
i. ein Nutzen oder eine sonstige Leistung des Traumes, wird nicht notwendig
aus der Theorie ableitbar sein müssen, aber unsere auf die Teleologie gewohnheitsgemäß
gerichtete Erwartung wird doch jenen Theorien entgegenkommen, die mit der Einsicht in eine
Funktion des Traumes verbunden sind.
Wir haben bereits mehrere Auffassungen des Traumes kennengelernt, die den Namen von
Traumtheorien in diesem Sinne mehr oder weniger verdienten. Der Glaube der Alten, daß der
Traum eine Sendung der Götter sei, um die Handlungen der Menschen zu lenken, war eine
vollständige Theorie des Traumes, die über alles am Traum Wissenswerte Auskunft erteilte.
Seitdem der Traum ein Gegenstand der biologischen Forschung geworden ist, kennen wir eine
größere Anzahl von Traumtheorien, aber darunter auch manche recht unvollständige. Wenn man
auf Vollzähligkeit verzichtet, kann man etwa folgende lockere Gruppierung der Traumtheorien
versuchen, je nach der zugrunde gelegten Annahme über Maß und Art der psychischen Tätigkeit
im Traum:
1) Solche Theorien, welche die volle psychische Tätigkeit des Wachens sich in den Traum
fortsetzen lassen, wie die von Delboeuf. Hier schläft die Seele nicht, ihr Apparat bleibt intakt,
aber unter die vom Wachen abweichenden Bedingungen des Schlafzustandes gebracht, muß sie
bei normalem Funktionieren andere Ergebnisse liefern als im Wachen. Bei diesen Theorien fragt
es sich, ob sie imstande sind, die Unterschiede des Traumes von dem Wachdenken sämtlich aus
den Bedingungen des Schlafzustandes abzuleiten. Überdies fehlt ihnen ein möglicher Zugang zu
einer Funktion des Traumes; man sieht nicht ein, wozu man träumt, warum der komplizierte
Mechanismus des seelischen Apparats weiterspielt, auch wenn er in Verhältnisse versetzt wird,
für die er nicht berechnet scheint. Traumlos schlafen oder, wenn störende Reize kommen,
aufwachen, blieben die einzig zweckmäßigen Reaktionen anstatt der dritten, der des Träumens.
2) Solche Theorien, welche im Gegenteile für den Traum eine Herabsetzung der psychischen
Tätigkeit, eine Auflockerung der Zusammenhänge, eine Verarmung an anspruchsfähigem
Material annehmen. Diesen Theorien zufolge müßte eine ganz andere psychologische
Charakteristik des Schlafes gegeben werden als etwa nach Delboeuf. Der Schlaf erstreckt sich
weit über die Seele, er besteht nicht bloß in einer Absperrung der Seele von der Außenwelt, er
dringt vielmehr in ihren Mechanismus ein und macht ihn zeitweilig unbrauchbar. Wenn ich einen
Vergleich mit psychiatrischem Material heranziehen darf, so möchte ich sagen, die ersteren
Theorien konstruieren den Traum wie eine Paranoia, die zweiterwähnten machen ihn zum
Vorbilde des Schwachsinns oder einer Amentia.
Die Theorie, daß im Traumleben nur ein Bruchteil der durch den Schlaf lahmgelegten
Seelentätigkeit zum Ausdruck komme, ist die bei ärztlichen Schriftstellern und in der
wissenschaftlichen Welt überhaupt weit bevorzugte. Soweit ein allgemeineres Interesse für
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin