Seite - 546 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Überdeterminierung des Trauminhalts an ihm zu erweisen. Ich wähle hiefür den Traum von
Irmas Injektion. Wir werden an diesem Beispiel mühelos erkennen, daß die Verdichtungsarbeit
bei der Traumbildung sich mehr als nur eines Mittels bedient.
Die Hauptperson des Trauminhalts ist die Patientin Irma, die mit den ihr im Leben zukommenden
Zügen gesehen wurde und also zunächst sich selbst darstellt. Die Stellung aber, in welcher ich sie
beim Fenster untersuche, ist von einer Erinnerung an eine andere Person hergenommen, von jener
Dame, mit der ich meine Patientin vertauschen möchte, wie die Traumgedanken zeigen. Insofern
Irma einen diphtheritischen Belag erkennen läßt, bei dem die Sorge um meine älteste Tochter
erinnert wird, gelangt sie zur Darstellung dieses meines Kindes, hinter welchem, durch die
Namensgleichheit mit ihm verknüpft, die Person einer durch Intoxikation verlorenen Patientin
sich verbirgt. Im weiteren Verlauf des Traums wandelt sich die Bedeutung von Irmas
Persönlichkeit (ohne daß ihr im Traum gesehenes Bild sich änderte); sie wird zu einem der
Kinder, die wir in der öffentlichen Ordination des Kinder-Krankeninstituts untersuchen, wobei
meine Freunde die Verschiedenheit ihrer geistigen Anlagen erweisen. Der Übergang wurde
offenbar durch die Vorstellung meiner kindlichen Tochter vermittelt. Durch das Sträuben beim
Mundöffnen wird dieselbe Irma zur Anspielung auf eine andere, einmal von mir untersuchte
Dame, ferner in demselben Zusammenhang auf meine eigene Frau. In den krankhaften
Veränderungen, die ich in ihrem Hals entdecke, habe ich überdies Anspielungen auf eine ganze
Reihe von noch anderen Personen zusammengetragen.
All diese Personen, auf die ich bei der Verfolgung von »Irma« gerate, treten im Traum nicht
leibhaftig auf; sie verbergen sich hinter der Traumperson »Irma«, welche so zu einem
Sammelbild mit allerdings widerspruchsvollen Zügen ausgestaltet wird. Irma wird zur Vertreterin
dieser anderen, bei der Verdichtungsarbeit hingeopferten Personen, indem ich an ihr all das
vorgehen lasse, was mich Zug für Zug an diese Personen erinnert.
Ich kann mir eine Sammelperson auch auf andere Weise für die Traumverdichtung herstellen,
indem ich aktuelle Züge zweier oder mehrerer Personen zu einem Traumbilde vereinige.
Solcherart ist der Dr. M. meines Traumes entstanden, er trägt den Namen des Dr. M., spricht und
handelt wie er; seine leibliche Charakteristik und sein Leiden sind die einer anderen Person,
meines ältesten Bruders; ein einziger Zug, das blasse Aussehen, ist doppelt determiniert, indem er
in der Realität beiden Personen gemeinsam ist.
Eine ähnliche Mischperson ist der Dr. R. meines Onkeltraums. Hier aber ist das Traumbild noch
auf andere Weise bereitet. Ich habe nicht Züge, die dem einen eigen sind, mit den Zügen des
anderen vereinigt und dafür das Erinnerungsbild eines jeden um gewisse Züge verkürzt, sondern
ich habe das Verfahren eingeschlagen, nach welchem Galton seine Familienporträts erzeugt,
nämlich beide Bilder aufeinanderprojiziert, wobei die gemeinsamen Züge verstärkt hervortreten,
die nicht zusammenstimmenden einander auslöschen und im Bilde undeutlich werden. Im
Onkeltraum hebt sich so als verstärkter Zug aus der zwei Personen gehörigen und darum
verschwommenen Physiognomie der blonde Bart hervor, der überdies eine Anspielung auf
meinen Vater und auf mich enthält, vermittelt durch die Beziehung zum Ergrauen.
Die Herstellung von Sammel- und Mischpersonen ist eines der Hauptarbeitsmittel der
Traumverdichtung. Es wird sich bald der Anlaß ergeben, sie in einem anderen Zusammenhange
zu behandeln.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin