Seite - 585 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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liegt. Sein Vater will sich ein großes Stück davon abreißen, sieht sich aber vorher um, ob es nicht
jemand bemerken kann. Er sagt ihm, er braucht es doch nur dem Aufseher zu sagen, dann kann
er sich ohne weiteres davon nehmen. Aus diesem Hof führt eine Treppe in einen Schacht
hinunter, dessen Wände weich ausgepolstert sind, etwa wie ein Lederfauteuil. Am Ende dieses
Schachtes ist eine längere Plattform, und dann beginnt ein neuer Schacht…«
analyse: Dieser Träumer gehörte einem therapeutisch nicht günstigen Typus von Kranken an, die
bis zu einem gewissen Punkt der Analyse überhaupt keine Widerstände machen und sich von da
an fast unzugänglich erweisen. Diesen Traum deutete er fast selbständig. Die Rotunde, sagte er,
ist mein Genitale, der Fesselballon davor mein Penis, über dessen Schlaffheit ich zu klagen habe.
Man darf also eingehender übersetzen, die Rotunde sei das – vom Kind regelmäßig zum Genitale
gerechnete – Gesäß, der kleinere Vorbau der Hodensack. Im Traum fragt ihn der Vater, was das
alles ist, d.
h. nach Zweck und Verrichtung der Genitalien. Es liegt nahe, diesen Sachverhalt
umzukehren, so daß er der fragende Teil wird. Da eine solche Befragung des Vaters in
Wirklichkeit nie stattgefunden hat, muß man den Traumgedanken als Wunsch auffassen oder ihn
etwa konditionell nehmen: »Wenn ich den Vater um sexuelle Aufklärung gebeten hätte.« Die
Fortsetzung dieses Gedankens werden wir bald an anderer Stelle finden.
Der Hof, in dem das Blech ausgebreitet liegt, ist nicht in erster Linie symbolisch zu fassen,
sondern stammt aus dem Geschäftslokal des Vaters. Aus Gründen der Diskretion habe ich das
»Blech« für das andere Material, mit dem der Vater handelt, eingesetzt, ohne sonst etwas am
Wortlaut des Traumes zu ändern. Der Träumer ist in das Geschäft des Vaters eingetreten und hat
an den eher unkorrekten Praktiken, auf denen der Gewinn zum Teil beruht, gewaltigen Anstoß
genommen. Daher dürfte die Fortsetzung des obigen Traumgedankens lauten: »(Wenn ich ihn
gefragt hätte), würde er mich betrogen haben, wie er seine Kunden betrügt.« Für das Abreißen,
welches der Darstellung der geschäftlichen Unredlichkeit dient, gibt der Träumer selbst die
zweite Erklärung, es bedeute die Onanie. Dies ist uns nicht nur längst bekannt (siehe oben, S. 343
Anm. 144), sondern stimmt auch sehr gut dazu, daß das Geheimnis der Onanie durch das
Gegenteil ausgedrückt ist (man darf es ja offen tun). Es entspricht dann allen Erwartungen, daß
die onanistische Tätigkeit wieder dem Vater zugeschoben wird, wie die Befragung in der ersten
Traumszene. Den Schacht deutet er sofort unter Berufung auf die weiche Polsterung der Wände
als Vagina. Daß das Herabsteigen wie sonst das Aufsteigen den Koitusverkehr in der Vagina
beschreiben will, setze ich aus anderer Kenntnis ein (vgl. meine Bemerkung; siehe oben S. 349
Anm. 152).
Die Einzelheiten, daß auf den ersten Schacht eine längere Plattform folgt und dann ein neuer
Schacht, erklärt er selbst biographisch. Er hat eine Zeitlang koitiert, dann den Verkehr infolge
von Hemmungen aufgegeben und hofft ihn jetzt mit Hilfe der Kur wieder aufnehmen zu können.
Der Traum wird aber gegen Ende undeutlicher, und dem Kundigen muß es plausibel erscheinen,
daß sich schon in der zweiten Traumszene der Einfluß eines anderen Themas geltend mache, auf
welches das Geschäft des Vaters, sein betrügerisches Vorgehen, die erste als Schacht dargestellte
Vagina deuten, so daß man eine Beziehung auf die Mutter annehmen kann.
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Das männliche Glied durch Personen, das weibliche durch eine Landschaft symbolisiert
(Traum einer Frau aus dem Volke, deren Mann Wachmann ist, mitgeteilt von B. Dattner)
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin