Seite - 664 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Träume, an die das Erwachen unmittelbar anschließt, nichts anderes darstellen als den Vorsatz
oder den Vorgang des Erwachens selbst. Dieser Absicht dient: das Überschreiten einer Schwelle
(»Schwellensymbolik«), das Verlassen eines Raums, um einen anderen zu betreten, das Abreisen,
Heimkommen, die Trennung von einem Begleiter, das Eintauchen in Wasser und anderes. Ich
kann allerdings die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ich die auf Schwellensymbolik zu
beziehenden Elemente des Traumes in eigenen Träumen wie in denen der von mir analysierten
Personen ungleich seltener angetroffen habe, als man nach den Mitteilungen von Silberer
erwarten sollte.
Es ist keineswegs undenkbar oder unwahrscheinlich, daß diese »Schwellensymbolik« auch für
manche Elemente mitten im Zusammenhange eines Traumes aufklärend würde, z. B. an Stellen,
wo es sich um Schwankungen der Schlaftiefe und Neigung, den Traum abzubrechen, handelte.
Doch sind gesicherte Beispiele für dieses Vorkommen noch nicht erbracht. Häufiger scheint der
Fall der Überdeterminierung vorzuliegen, daß eine Traumstelle, welche ihren materialen Inhalt
aus dem Gefüge der Traumgedanken bezieht, überdies zur Darstellung von etwas Zuständlichem
an der seelischen Tätigkeit verwendet wurde.
Das sehr interessante funktionale Phänomen Silberers hat ohne Verschulden seines Entdeckers
viel Mißbrauch herbeigeführt, indem die alte Neigung zur abstrakt-symbolischen Deutung der
Träume eine Anlehnung an dasselbe gefunden hat. Die Bevorzugung der »funktionalen
Kategorie« geht bei manchen so weit, daß sie vom funktionalen Phänomen sprechen, wo immer
intellektuelle Tätigkeiten oder Gefühlsvorgänge im Inhalt der Traumgedanken vorkommen,
obwohl dieses Material nicht mehr und nicht weniger Anrecht hat, als Tagesrest in den Traum
einzugehen, als alles andere.
Wir wollen anerkennen, daß die Silbererschen Phänomene einen zweiten Beitrag zur
Traumbildung von Seite des Wachdenkens darstellen, welcher allerdings minder konstant und
bedeutsam ist als der erste, unter dem Namen »sekundäre Bearbeitung« eingeführte. Es hatte sich
gezeigt, daß ein Stück der bei Tage tätigen Aufmerksamkeit auch während des Schlafzustandes
dem Traume zugewendet bleibt, ihn kontrolliert, kritisiert und sich die Macht vorbehält, ihn zu
unterbrechen. Es hat uns nahegelegen, in dieser wachgebliebenen seelischen Instanz den Zensor
zu erkennen, dem ein so starker eindämmernder Einfluß auf die Gestaltung des Traumes zufällt.
Was die Beobachtungen von Silberer dazugeben, ist die Tatsache, daß unter Umständen eine Art
von Selbstbeobachtung dabei mittätig ist und ihren Beitrag zum Trauminhalt liefert. Über die
wahrscheinlichen Beziehungen dieser selbstbeobachtenden Instanz, die besonders bei
philosophischen Köpfen vordringlich werden mag, zur endopsychischen Wahrnehmung, zum
Beachtungswahn, zum Gewissen und zum Traumzensor geziemt es sich, an anderer Stelle zu
handeln[200].
Ich gehe nun daran, diese ausgedehnten Erörterungen über die Traumarbeit zu resümieren. Wir
fanden die Fragestellung vor, ob die Seele alle ihre Fähigkeiten in ungehemmter Entfaltung an
die Traumbildung verwende oder nur einen in seiner Leistung gehemmten Bruchteil derselben.
Unsere Untersuchungen leiten uns dazu, solche Fragestellung überhaupt als den Verhältnissen
inadäquat zu verwerfen. Sollen wir aber bei der Antwort auf demselben Boden bleiben, auf den
uns die Frage drängt, so müssen wir beide einander scheinbar durch Gegensatz ausschließenden
Auffassungen bejahen. Die seelische Arbeit bei der Traumbildung zerlegt sich in zwei
Leistungen: die Herstellung der Traumgedanken und die Umwandlung derselben zum
Trauminhalt. Die Traumgedanken sind völlig korrekt und mit allem psychischen Aufwand,
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin