Seite - 884 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Perversion das Vorbild einer, allerdings nicht bis zum äußersten getriebenen Entmischung. Es
eröffnet sich uns dann ein Einblick in ein großes Gebiet von Tatsachen, welches noch nicht in
diesem Licht betrachtet worden ist. Wir erkennen, daß der Destruktionstrieb regelmäßig zu
Zwecken der Abfuhr in den Dienst des Eros gestellt ist, ahnen, daß der epileptische Anfall
Produkt und Anzeichen einer Triebentmischung ist, und lernen verstehen, daß unter den Erfolgen
mancher schweren Neurosen, zum Beispiel der Zwangsneurosen, die Triebentmischung und das
Hervortreten des Todestriebes eine besondere Würdigung verdient. In rascher Verallgemeinerung
möchten wir vermuten, daß das Wesen einer Libidoregression, zum Beispiel von der genitalen
zur sadistisch-analen Phase, auf einer Triebentmischung beruht, wie umgekehrt der Fortschritt
von der früheren zur definitiven Genitalphase einen Zuschuß von erotischen Komponenten zur
Bedingung hat. Es erhebt sich auch die Frage, ob nicht die reguläre Ambivalenz, die wir in der
konstitutionellen Anlage zur Neurose so oft verstärkt finden, als Ergebnis einer Entmischung
aufgefaßt werden darf; allein diese ist so ursprünglich, daß sie vielmehr als nicht vollzogene
Triebmischung gelten muß.
Unser Interesse wird sich natürlich den Fragen zuwenden, ob sich nicht aufschlußreiche
Beziehungen zwischen den angenommenen Bildungen des Ichs, Über-Ichs und des Es einerseits,
den beiden Triebarten anderseits auffinden lassen, ferner, ob wir dem die seelischen Vorgänge
beherrschenden Lustprinzip eine feste Stellung zu den beiden Triebarten und den seelischen
Differenzierungen zuweisen können. Ehe wir aber in diese Diskussion eintreten, haben wir einen
Zweifel zu erledigen, der sich gegen die Problemstellung selbst richtet. Am Lustprinzip ist zwar
kein Zweifel, die Gliederung des Ichs ruht auf klinischer Rechtfertigung, aber die Unterscheidung
der beiden Triebarten scheint nicht genug gesichert, und möglicherweise heben Tatsachen der
klinischen Analyse ihren Anspruch auf.
Eine solche Tatsache scheint es zu geben. Für den Gegensatz der beiden Triebarten dürfen wir
die Polarität von Liebe und Haß einsetzen. Um eine Repräsentanz des Eros sind wir ja nicht
verlegen, dagegen sehr zufrieden, daß wir für den schwer zu fassenden Todestrieb im
Destruktionstrieb, dem der Haß den Weg zeigt, einen Vertreter aufzeigen können. Nun lehrt uns
die klinische Beobachtung, daß der Haß nicht nur der unerwartet regelmäßige Begleiter der Liebe
ist (Ambivalenz), nicht nur häufig ihr Vorläufer in menschlichen Beziehungen, sondern auch, daß
Haß sich unter mancherlei Verhältnissen in Liebe und Liebe in Haß verwandelt. Wenn diese
Verwandlung mehr ist als bloß zeitliche Sukzession, also Ablösung, dann ist offenbar einer so
grundlegenden Unterscheidung wie zwischen erotischen und Todestrieben, die entgegengesetzt
laufende physiologische Vorgänge voraussetzt, der Boden entzogen.
Nun der Fall, daß man dieselbe Person zuerst liebt und dann haßt, oder umgekehrt, wenn sie
einem die Anlässe dazu gegeben hat, gehört offenbar nicht zu unserem Problem. Auch nicht der
andere, daß eine noch nicht manifeste Verliebtheit sich zuerst durch Feindseligkeit und
Aggressionsneigung äußert, denn die destruktive Komponente könnte da bei der Objektbesetzung
vorangeeilt sein, bis die erotische sich zu ihr gesellt. Aber wir kennen mehrere Fälle aus der
Psychologie der Neurosen, in denen die Annahme einer Verwandlung näherliegt. Bei der
Paranoia persecutoria erwehrt sich der Kranke einer überstarken homosexuellen Bindung an
eine bestimmte Person auf eine gewisse Weise, und das Ergebnis ist, daß diese geliebteste Person
zum Verfolger wird, gegen den sich die oft gefährliche Aggression des Kranken richtet. Wir
haben das Recht einzuschalten, daß eine Phase vorher die Liebe in Haß umgewandelt hatte. Bei
der Entstehung der Homosexualität, aber auch der desexualisierten sozialen Gefühle lehrte uns
die analytische Untersuchung erst neuerdings die Existenz von heftigen, zu Aggressionsneigung
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin