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führenden Gefühlen der Rivalität kennen, nach deren Überwindung erst das früher gehaßte
Objekt zum geliebten oder zum Gegenstand einer Identifizierung wird. Die Frage erhebt sich, ob
für diese Fälle eine direkte Umsetzung von Haß in Liebe anzunehmen ist. Hier handelt es sich ja
um rein innerliche Änderungen, an denen ein geändertes Benehmen des Objekts keinen Anteil
hat.
Die analytische Untersuchung des Vorganges bei der paranoischen Umwandlung macht uns aber
mit der Möglichkeit eines anderen Mechanismus vertraut. Es ist von Anfang an eine ambivalente
Einstellung vorhanden, und die Verwandlung geschieht durch eine reaktive
Besetzungsverschiebung, indem der erotischen Regung Energie entzogen und der feindseligen
Energie zugeführt wird.
Nicht das nämliche, aber ähnliches geschieht bei der Überwindung der feindseligen Rivalität, die
zur Homosexualität führt. Die feindselige Einstellung hat keine Aussicht auf Befriedigung, daher
– aus ökonomischen Motiven also – wird sie von der Liebeseinstellung abgelöst, welche mehr
Aussicht auf Befriedigung, das ist Abfuhrmöglichkeit, bietet. Somit brauchen wir für keinen
dieser Fälle eine direkte Verwandlung von Haß in Liebe, die mit der qualitativen Verschiedenheit
der beiden Triebarten unverträglich wäre, anzunehmen.
Wir bemerken aber, daß wir bei der Inanspruchnahme dieses anderen Mechanismus der
Umwandlung von Liebe in Haß stillschweigend eine andere Annahme gemacht haben, die laut zu
werden verdient. Wir haben so geschaltet, als gäbe es im Seelenleben – unentschieden, ob im Ich
oder im Es – eine verschiebbare Energie, die, an sich indifferent, zu einer qualitativ
differenzierten erotischen oder destruktiven Regung hinzutreten und deren Gesamtbesetzung
erhöhen kann. Ohne die Annahme einer solchen verschiebbaren Energie kommen wir überhaupt
nicht aus. Es fragt sich nur, woher sie stammt, wem sie zugehört und was sie bedeutet.
Das Problem der Qualität der Triebregungen und deren Erhaltung bei den verschiedenen
Triebschicksalen ist noch sehr dunkel und derzeit kaum in Angriff genommen. An den sexuellen
Partialtrieben, die der Beobachtung besonders gut zugänglich sind, kann man einige Vorgänge,
die in denselben Rahmen gehören, feststellen, zum Beispiel daß die Partialtriebe gewissermaßen
miteinander kommunizieren, daß ein Trieb aus einer besonderen erogenen Quelle seine Intensität
zur Verstärkung eines Partialtriebes aus anderer Quelle abgeben kann, daß die Befriedigung des
einen Triebes einem anderen die Befriedigung ersetzt und dergleichen mehr, was einem Mut
machen muß, Annahmen gewisser Art zu wagen.
Ich habe auch in der vorliegenden Diskussion nur eine Annahme, nicht einen Beweis zu bieten.
Es erscheint plausibel, daß diese wohl im Ich und im Es tätige, verschiebbare und indifferente
Energie dem narzißtischen Libidovorrat entstammt, also desexualisierter Eros ist. Die erotischen
Triebe erscheinen uns ja überhaupt plastischer, ablenkbarer und verschiebbarer als die
Destruktionstriebe. Dann kann man ohne Zwang fortsetzen, daß diese verschiebbare Libido im
Dienst des Lustprinzips arbeitet, um Stauungen zu vermeiden und Abfuhren zu erleichtern. Dabei
ist eine gewisse Gleichgültigkeit, auf welchem Wege die Abfuhr geschieht, wenn sie nur
überhaupt geschieht, unverkennbar. Wir kennen diesen Zug als charakteristisch für die
Besetzungsvorgänge im Es. Er findet sich bei den erotischen Besetzungen, wobei eine besondere
Gleichgültigkeit in bezug auf das Objekt entwickelt wird, ganz besonders bei den Übertragungen
in der Analyse, die vollzogen werden müssen, gleichgültig auf welche Personen. Rank hat
kürzlich schöne Beispiele dafür gebracht, daß neurotische Racheaktionen gegen die unrichtigen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin