Seite - 1235 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 1235 -
Text der Seite - 1235 -
Wunschregung infolge von Verdrängung verlorengegangen ist, so wird es häufig durch eine
unendliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch keines voll genügt. Dies mag uns
die Unbeständigkeit in der Objektwahl, den »Reizhunger« erklären, der dem Liebesleben der
Erwachsenen so häufig eignet.
Zweitens wissen wir, daß der Sexualtrieb anfänglich in eine große Reihe von Komponenten
zerfällt – vielmehr aus einer solchen hervorgeht –, von denen nicht alle in dessen spätere
Gestaltung aufgenommen werden können, sondern vorher unterdrückt oder anders verwendet
werden müssen. Es sind vor allem die koprophilen Triebanteile, die sich als unverträglich mit
unserer ästhetischen Kultur erwiesen, wahrscheinlich, seitdem wir durch den aufrechten Gang
unser Riechorgan von der Erde abgehoben haben; ferner ein gutes Stück der sadistischen
Antriebe, die zum Liebesleben gehören. Aber alle solche Entwicklungsvorgänge betreffen nur die
oberen Schichten der komplizierten Struktur. Die fundamentellen Vorgänge, welche die
Liebeserregung liefern, bleiben ungeändert. Das Exkrementelle ist allzu innig und untrennbar mit
dem Sexuellen verwachsen, die Lage der Genitalien – inter urinas et faeces – bleibt das
bestimmende unveränderliche Moment. Man könnte hier, ein bekanntes Wort des großen
Napoleon variierend, sagen: die Anatomie ist das Schicksal. Die Genitalien selbst haben die
Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch
geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher
war. Die Liebestriebe sind schwer erziehbar, ihre Erziehung ergibt bald zuviel, bald zuwenig.
Das, was die Kultur aus ihnen machen will, scheint ohne fühlbare Einbuße an Lust nicht
erreichbar, die Fortdauer der unverwerteten Regungen gibt sich bei der Sexualtätigkeit als
Unbefriedigung zu erkennen.
So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, daß eine Ausgleichung der
Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß
Verzicht und Leiden sowie in weitester Ferne die Gefahr des Erlöschens des
Menschengeschlechts infolge seiner Kulturentwicklung nicht abgewendet werden können. Diese
trübe Prognose ruht allerdings auf der einzigen Vermutung, daß die kulturelle Unbefriedigung die
notwendige Folge gewisser Besonderheiten ist, welche der Sexualtrieb unter dem Drucke der
Kultur angenommen hat. Die nämliche Unfähigkeit des Sexualtriebes, volle Befriedigung zu
ergeben, sobald er den ersten Anforderungen der Kultur unterlegen ist, wird aber zur Quelle der
großartigsten Kulturleistungen, welche durch immer weitergehende Sublimierung seiner
Triebkomponenten bewerkstelligt werden. Denn welches Motiv hätten die Menschen, sexuelle
Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen, wenn sich aus denselben bei irgendeiner
Verteilung volle Lustbefriedigung ergeben hätte? Sie kämen von dieser Lust nicht wieder los und
brächten keinen weiteren Fortschritt zustande. So scheint es, daß sie durch die unausgleichbare
Differenz zwischen den Anforderungen der beiden Triebe – des sexuellen und des egoistischen –
zu immer höheren Leistungen befähigt werden, allerdings unter einer beständigen Gefährdung,
welcher die Schwächeren gegenwärtig in der Form der Neurose erliegen.
Die Wissenschaft hat weder die Absicht zu schrecken noch zu trösten. Aber ich bin selbst gern
bereit zuzugeben, daß so weittragende Schlußfolgerungen wie die obenstehenden auf breiterer
Basis aufgebaut sein sollten und daß vielleicht andere Entwicklungseinrichtungen der Menschheit
das Ergebnis der hier isoliert behandelten zu korrigieren vermögen.
[◀]
1235
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin