Seite - 1375 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Zärtlichkeit hinzugeben, und ruft vielleicht die Erinnerung an den einzigen Kuß auf, den sie
bisher von ihm empfangen hat. Aber nach der in meiner Traumdeutung entwickelten Theorie
reichen solche Elemente nicht hin, um einen Traum zu bilden. Ein Traum sei kein Vorsatz, der
als ausgeführt, sondern ein Wunsch, der als erfüllt dargestellt wird; und zwar womöglich ein
Wunsch aus dem Kinderleben. Wir haben die Verpflichtung zu prüfen, ob dieser Satz nicht durch
unseren Traum widerlegt wird.
Der Traum enthält in der Tat infantiles Material, welches in keiner auf den ersten Blick
ergründbaren Beziehung zum Vorsatze steht, das Haus des Herrn K. und die von ihm ausgehende
Versuchung zu fliehen. Wozu taucht wohl die Erinnerung an das Bettnässen als Kind und an die
Mühe auf, die sich der Vater damals gab, das Kind rein zu gewöhnen? Man kann darauf die
Antwort geben, weil es nur mit Hilfe dieses Gedankenzuges möglich ist, die intensiven
Versuchungsgedanken zu unterdrücken und den gegen sie gefaßten Vorsatz zur Herrschaft zu
bringen. Das Kind beschließt, mit seinem Vater zu flüchten; in Wirklichkeit flüchtet es sich in der
Angst vor dem ihm nachstellenden Manne zu seinem Vater; es ruft eine infantile Neigung zum
Vater wach, die es gegen die rezente zu dem Fremden schützen soll. An der gegenwärtigen
Gefahr ist der Vater selbst mitschuldig, der sie wegen eigener Liebesinteressen dem fremden
Manne ausgeliefert hat. Wie viel schöner war es doch, als derselbe Vater niemanden anderen
lieber hatte als sie und sich bemühte, sie vor den Gefahren, die sie damals bedrohten, zu retten.
Der infantile und heute unbewußte Wunsch, den Vater an die Stelle des fremden Mannes zu
setzen, ist eine traumbildende Potenz. Wenn es eine Situation gegeben hat, die ähnlich einer der
gegenwärtigen sich doch durch diese Personvertretung von ihr unterschied, so wird diese zur
Hauptsituation des Trauminhaltes. Es gibt eine solche; geradeso wie am Vortage Herr K., stand
einst der Vater vor ihrem Bette und weckte sie etwa mit einem Kusse, wie vielleicht Herr K.
beabsichtigt hatte. Der Vorsatz, das Haus zu fliehen, ist also nicht an und für sich traumfähig, er
wird es dadurch, daß sich ihm ein anderer, auf infantile Wünsche gestützter Vorsatz beigesellt.
Der Wunsch, Herrn K. durch den Vater zu ersetzen, gibt die Triebkraft zum Traume ab. Ich
erinnere an die Deutung, zu der mich der verstärkte, auf das Verhältnis des Vaters zu Frau K.
bezügliche Gedankenzug nötigte, es sei hier eine infantile Neigung zum Vater wachgerufen
worden, um die verdrängte Liebe zu Herrn K. in der Verdrängung erhalten zu können; diesen
Umschwung im Seelenleben der Patientin spiegelt der Traum wider.
Über das Verhältnis zwischen den in den Schlaf sich fortsetzenden Wachgedanken – den
Tagesresten – und dem unbewußten traumbildenden Wunsche habe ich in der Traumdeutung
einige Bemerkungen niedergelegt, die ich hier unverändert zitieren werde, denn ich habe ihnen
nichts hinzuzufügen, und die Analyse dieses Traumes von Dora beweist von neuem, daß es sich
nicht anders verhält.
»Ich will zugeben, daß es eine ganze Klasse von Träumen gibt, zu denen die Anregung
vorwiegend oder selbst ausschließlich aus den Resten des Tageslebens stammt, und ich meine,
selbst mein Wunsch, endlich einmal Professor extraordinarius zu werden[66], hätte mich diese
Nacht ruhig schlafen lassen können, wäre nicht die Sorge um die Gesundheit meines Freundes
vom Tage her noch rührig gewesen. Aber diese Sorge hätte noch keinen Traum gemacht; die
Triebkraft, die der Traum bedurfte, mußte von einem Wunsche beigesteuert werden; es war
Sache der Besorgnis, sich einen solchen Wunsch als Triebkraft des Traumes zu verschaffen. Um
es in einem Gleichnisse zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, daß ein Tagesgedanke die Rolle des
Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und
den Drang, sie in Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin