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Sexualität bezüglichen Regungen gehalten werden. Man sieht in diesen Fällen das Befinden der
Kranken in dem Maße sich bessern, in dem man durch Übersetzung des pathogenen Materials in
normales zur Lösung ihrer psychischen Aufgaben beigetragen hat. Anders ist der Verlauf, wo
sich die Symptome in den Dienst äußerer Motive des Lebens gestellt haben, wie es auch bei Dora
seit den letzten zwei Jahren geschehen war. Man ist überrascht und könnte leicht irre werden,
wenn man erfährt, daß das Befinden der Kranken durch die selbst weit vorgeschrittene Arbeit
nicht merklich geändert wird. In Wirklichkeit steht es nicht so arg; die Symptome schwinden
zwar nicht unter der Arbeit, wohl aber eine Zeitlang nach derselben, wenn die Beziehungen zum
Arzte gelöst sind. Der Aufschub der Heilung oder Besserung ist wirklich nur durch die Person
des Arztes verursacht.
Ich muß etwas weiter ausholen, um diesen Sachverhalt verständlich zu machen. Während einer
psychoanalytischen Kur ist die Neubildung von Symptomen, man darf wohl sagen: regelmäßig,
sistiert. Die Produktivität der Neurose ist aber durchaus nicht erloschen, sondern betätigt sich in
der Schöpfung einer besonderen Art von meist unbewußten Gedankenbildungen, welchen man
den Namen »Übertragungen« verleihen kann.
Was sind die Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und
Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden
sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die
Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird
nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig. Es
gibt solche Übertragungen, die sich im Inhalt von ihrem Vorbilde in gar nichts bis auf die
Ersetzung unterscheiden. Das sind also, um in dem Gleichnisse zu bleiben, einfache Neudrucke,
unveränderte Neuauflagen. Andere sind kunstvoller gemacht, sie haben eine Milderung ihres
Inhaltes, eine Sublimierung, wie ich sage, erfahren und vermögen selbst bewußt zu werden,
indem sie sich an irgendeine geschickt verwertete reale Besonderheit an der Person oder in den
Verhältnissen des Arztes anlehnen. Das sind also Neubearbeitungen, nicht mehr Neudrucke.
Wenn man sich in die Theorie der analytischen Technik einläßt, kommt man zu der Einsicht, daß
die Übertragung etwas notwendig Gefordertes ist. Praktisch überzeugt man sich wenigstens, daß
man ihr durch keinerlei Mittel ausweichen kann und daß man diese letzte Schöpfung der
Krankheit wie alle früheren zu bekämpfen hat. Nun ist dieses Stück der Arbeit das bei weitem
schwierigste. Das Deuten der Träume, das Extrahieren der unbewußten Gedanken und
Erinnerungen aus den Einfällen des Kranken und ähnliche Übersetzungskünste sind leicht zu
erlernen; dabei liefert immer der Kranke selbst den Text. Die Übertragung allein muß man fast
selbständig erraten, auf geringfügige Anhaltspunkte hin und ohne sich der Willkür schuldig zu
machen. Zu umgehen ist sie aber nicht, da sie zur Herstellung aller Hindernisse verwendet wird,
welche das Material der Kur unzugänglich machen, und da die Überzeugungsempfindung für die
Richtigkeit der konstruierten Zusammenhänge beim Kranken erst nach Lösung der Übertragung
hervorgerufen wird.
Man wird geneigt sein, es für einen schweren Nachteil des ohnehin unbequemen Verfahrens zu
halten, daß dasselbe die Arbeit des Arztes durch Schöpfung einer neuen Gattung von krankhaften
psychischen Produkten noch vermehrt, ja, wird vielleicht eine Schädigung des Kranken durch die
analytische Kur aus der Existenz der Übertragungen ableiten wollen. Beides wäre irrig. Die
Arbeit des Arztes wird durch die Übertragung nicht vermehrt; es kann ihm ja gleichgültig sein,
ob er die betreffende Regung des Kranken in Verbindung mit seiner Person oder mit einer
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin