Seite - 1437 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Waschen und Ankleiden, an der Lokomotion, die Neigung zur Wiederholung und zum
Zeitaufwand. Warum das so geschieht, ist noch keineswegs verständlich; die Sublimierung
analerotischer Komponenten spielt dabei eine deutliche Rolle.
Die Pubertät macht in der Entwicklung der Zwangsneurose einen entscheidenden Abschnitt. Die
in der Kindheit abgebrochene Genitalorganisation setzt nun mit großer Kraft wieder ein. Wir
wissen aber, daß die Sexualentwicklung der Kinderzeit auch für den Neubeginn der
Pubertätsjahre die Richtung vorschreibt. Es werden also einerseits die aggressiven Regungen der
Frühzeit wieder erwachen, anderseits muß ein mehr oder minder großer Anteil der neuen
libidinösen Regungen – in bösen Fällen deren Ganzes – die durch die Regression
vorgezeichneten Bahnen einschlagen und als aggressive und destruktive Absichten auftreten.
Infolge dieser Verkleidung der erotischen Strebungen und der starken Reaktionsbildungen im
Ich, wird nun der Kampf gegen die Sexualität unter ethischer Flagge weitergeführt. Das Ich
sträubt sich verwundert gegen grausame und gewalttätige Zumutungen, die ihm vom Es her ins
Bewußtsein geschickt werden, und ahnt nicht, daß es dabei erotische Wünsche bekämpft,
darunter auch solche, die sonst seinem Einspruch entgangen wären. Das überstrenge Über-Ich
besteht um so energischer auf der Unterdrückung der Sexualität, da sie so abstoßende Formen
angenommen hat. So zeigt sich der Konflikt bei der Zwangsneurose nach zwei Richtungen
verschärft, das Abwehrende ist intoleranter, das Abzuwehrende unerträglicher geworden; beides
durch den Einfluß des einen Moments, der Libidoregression.
Man könnte einen Widerspruch gegen manche unserer Voraussetzungen darin finden, daß die
unliebsame Zwangsvorstellung überhaupt bewußt wird. Allein es ist kein Zweifel, daß sie vorher
den Prozeß der Verdrängung durchgemacht hat. In den meisten Fällen ist der eigentliche
Wortlaut der aggressiven Triebregung dem Ich überhaupt nicht bekannt. Es gehört ein gutes
Stück analytischer Arbeit dazu, um ihn bewußt zu machen. Was zum Bewußtsein durchdringt, ist
in der Regel nur ein entstellter Ersatz, entweder von einer verschwommenen, traumhaften
Unbestimmtheit oder unkenntlich gemacht durch eine absurde Verkleidung. Wenn die
Verdrängung nicht den Inhalt der aggressiven Triebregung angenagt hat, so hat sie doch gewiß
den sie begleitenden Affektcharakter beseitigt. So erscheint die Aggression dem Ich nicht als ein
Impuls, sondern, wie die Kranken sagen, als ein bloßer »Gedankeninhalt«, der einen kalt lassen
sollte. Das Merkwürdigste ist, daß dies doch nicht der Fall ist.
Der bei der Wahrnehmung der Zwangsvorstellung ersparte Affekt kommt nämlich an anderer
Stelle zum Vorschein. Das Über-Ich benimmt sich so, als hätte keine Verdrängung stattgefunden,
als wäre ihm die aggressive Regung in ihrem richtigen Wortlaut und mit ihrem vollen
Affektcharakter bekannt, und behandelt das Ich auf Grund dieser Voraussetzung. Das Ich, das
sich einerseits schuldlos weiß, muß anderseits ein Schuldgefühl verspüren und eine
Verantwortlichkeit tragen, die es sich nicht zu erklären weiß. Das Rätsel, das uns hiemit
aufgegeben wird, ist aber nicht so groß, als es zuerst erscheint. Das Verhalten des Über-Ichs ist
durchaus verständlich, der Widerspruch im Ich beweist uns nur, daß es sich mittels der
Verdrängung gegen das Es verschlossen hat, während es den Einflüssen aus dem Über-Ich voll
zugänglich geblieben ist[107]. Der weiteren Frage, warum das Ich sich nicht auch der peinigenden
Kritik des Über-Ichs zu entziehen sucht, macht die Nachricht ein Ende, daß dies wirklich in einer
großen Reihe von Fällen so geschieht. Es gibt auch Zwangsneurosen ganz ohne
Schuldbewußtsein; soweit wir es verstehen, hat sich das Ich die Wahrnehmung desselben durch
eine neue Reihe von Symptomen, Bußhandlungen, Einschränkungen zur Selbstbestrafung,
erspart. Diese Symptome bedeuten aber gleichzeitig Befriedigungen masochistischer
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin