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worden, der die libidinöse Besetzung des Ichs in eine Reihe mit den Objektbesetzungen bringt
und die libidinöse Natur des Selbsterhaltungstriebes betont, sondern weil wir durch den Ausfall
dieser Analysen die kostbarste Gelegenheit zu entscheidenden Aufschlüssen über das Verhältnis
zwischen Angst und Symptombildung versäumt haben. Es ist nach allem, was wir von der
Struktur der simpleren Neurosen des täglichen Lebens wissen, sehr unwahrscheinlich, daß eine
Neurose nur durch die objektive Tatsache der Gefährdung ohne Beteiligung der tieferen
unbewußten Schichten des seelischen Apparats zustande kommen sollte. Im Unbewußten ist aber
nichts vorhanden, was unserem Begriff der Lebensvernichtung Inhalt geben kann. Die Kastration
wird sozusagen vorstellbar durch die tägliche Erfahrung der Trennung vom Darminhalt und
durch den bei der Entwöhnung erlebten Verlust der mütterlichen Brust; etwas dem Tod Ähnliches
ist aber nie erlebt worden oder hat wie die Ohnmacht keine nachweisbare Spur hinterlassen. Ich
halte darum an der Vermutung fest, daß die Todesangst als Analogon der Kastrationsangst
aufzufassen ist und daß die Situation, auf welche das Ich reagiert, das Verlassensein vom
schützenden Über-Ich – den Schicksalsmächten – ist, womit die Sicherung gegen alle Gefahren
ein Ende hat. Außerdem kommt in Betracht, daß bei den Erlebnissen, die zur traumatischen
Neurose führen, äußerer Reizschutz durchbrochen wird und übergroße Erregungsmengen an den
seelischen Apparat herantreten, so daß hier die zweite Möglichkeit vorliegt, daß Angst nicht nur
als Affekt signalisiert, sondern auch aus den ökonomischen Bedingungen der Situation neu
erzeugt wird.
Durch die letzte Bemerkung, das Ich sei durch regelmäßig wiederholte Objektverluste auf die
Kastration vorbereitet worden, haben wir eine neue Auffassung der Angst gewonnen.
Betrachteten wir sie bisher als Affektsignal der Gefahr, so erscheint sie uns nun, da es sich so oft
um die Gefahr der Kastration handelt, als die Reaktion auf einen Verlust, eine Trennung. Mag
auch mancherlei, was sich sofort ergibt, gegen diesen Schluß sprechen, so muß uns doch eine
sehr merkwürdige Übereinstimmung auffallen. Das erste Angsterlebnis des Menschen wenigstens
ist die Geburt, und diese bedeutet objektiv die Trennung von der Mutter, könnte einer Kastration
der Mutter (nach der Gleichung Kind = Penis) verglichen werden. Nun wäre es sehr befriedigend,
wenn die Angst als Symbol einer Trennung bei jeder späteren Trennung wiederholt würde, aber
leider steht einer Verwertung dieses Zusammenstimmens im Wege, daß ja die Geburt subjektiv
nicht als Trennung von der Mutter erlebt wird, da diese als Objekt dem durchaus narzißtischen
Fötus völlig unbekannt ist. Ein anderes Bedenken wird lauten, daß uns die Affektreaktionen auf
eine Trennung bekannt sind und daß wir sie als Schmerz und Trauer, nicht als Angst empfinden.
Allerdings erinnern wir uns, wir haben bei der Diskussion der Trauer auch nicht verstehen
können, warum sie so schmerzhaft ist.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin