Seite - 1655 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Überzeugung bekam, daß Gott – der übrigens deutliche Züge seines Vaters, des verdienten Arztes
Dr. Schreber, an sich trägt – den Entschluß gefaßt, ihn zu entmannen, als Weib zu gebrauchen
und aus ihm neue Menschen von Schreberschem Geist entstehen zu lassen. (Er war selbst in
seiner Ehe kinderlos geblieben.) An dem Sträuben gegen diese Absicht Gottes, welche ihm
höchst ungerecht und »weltordnungswidrig« vorkam, erkrankte er unter den Erscheinungen einer
Paranoia, die sich aber im Laufe der Jahre bis auf einen geringen Rest rückbildete. Der geistvolle
Verfasser seiner eigenen Krankengeschichte konnte wohl nicht ahnen, daß er in ihr ein typisches
pathogenes Moment aufgedeckt hatte.
Dieses Sträuben gegen die Kastration oder die feminine Einstellung hat Alf. Adler aus seinen
organischen Zusammenhängen gerissen, in seichte oder falsche Beziehungen zum Machtstreben
gebracht und als »männlichen Protest« selbständig hingestellt. Da eine Neurose immer nur aus
dem Konflikt zweier Strebungen hervorgehen kann, ist es ebenso berechtigt, im männlichen
Protest die Verursachung »aller« Neurosen zu sehen wie in der femininen Einstellung, gegen
welche protestiert wird. Richtig ist, daß dieser männliche Protest einen regelmäßigen Anteil an
der Charakterbildung hat, bei manchen Typen einen sehr großen, und daß er uns als scharfer
Widerstand bei der Analyse neurotischer Männer entgegentritt. Die Psychoanalyse würdigt den
männlichen Protest im Zusammenhang des Kastrationskomplexes, ohne seine Allmacht oder
Allgegenwart bei den Neurosen vertreten zu können. Der ausgeprägteste Fall von männlichem
Protest in allen manifesten Reaktionen und Charakterzügen, der meine Behandlung aufgesucht
hat, bedurfte ihrer wegen einer Zwangsneurose mit Obsessionen, in denen der ungelöste Konflikt
zwischen männlicher und weiblicher Einstellung (Kastrationsangst und Kastrationslust) zu
deutlichem Ausdruck kam. Überdies hatte der Patient masochistische Phantasien entwickelt, die
durchaus auf den Wunsch, die Kastration anzunehmen, zurückgingen, und war selbst von diesen
Phantasien zur realen Befriedigung in perversen Situationen vorgeschritten. Das Ganze seines
Zustandes beruhte – wie die Adlersche Theorie überhaupt – auf der Verdrängung, Verleugnung
frühinfantiler Liebesfixierungen.
Der Senatspräsident Schreber fand seine Heilung, als er sich entschloß, den Widerstand gegen die
Kastration aufzugeben und sich in die ihm von Gott zugedachte weibliche Rolle zu fügen. Er
wurde dann klar und ruhig, konnte seine Entlassung aus der Anstalt selbst durchsetzen und führte
ein normales Leben bis auf den einen Punkt, daß er einige Stunden täglich der Pflege seiner
Weiblichkeit widmete, von deren langsamem Fortschreiten bis zu dem von Gott bestimmten Ziel
er überzeugt blieb.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin