Seite - 1768 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 1768 -
Text der Seite - 1768 -
eine passive Einstellung war der Erfolg und das Zeichen der dazwischen vorgefallenen
Verführung. Eine aktive Einstellung gegen den übermächtigen Vater in der sadistischen Phase
wäre natürlich nicht so leicht durchführbar gewesen. Als der Vater im Spätsommer oder Herbst
zurückkam, bekamen seine Wutanfälle und Tobszenen eine neue Verwendung. Gegen die Nanja
hatten sie aktiv-sadistischen Zwecken gedient; gegen den Vater verfolgten sie masochistische
Absichten. Er wollte durch die Vorführung seiner Schlimmheit Züchtigung und Schläge von
Seiten des Vaters erzwingen, sich so bei ihm die erwünschte masochistische Sexualbefriedigung
holen. Seine Schreianfälle waren also geradezu Verführungsversuche. Der Motivierung des
Masochismus entsprechend hätte er bei solcher Züchtigung auch die Befriedigung seines
Schuldgefühls gefunden. Eine Erinnerung hat ihm aufbewahrt, wie er während einer solchen
Szene von Schlimmheit sein Schreien verstärkt, sobald der Vater zu ihm kommt. Der Vater
schlägt ihn aber nicht, sondern sucht ihn zu beschwichtigen, indem er mit den Polstern des
Bettchens vor ihm Ball spielt.
Ich weiß nicht, wie oft die Eltern und Erzieher angesichts der unerklärlichen Schlimmheit des
Kindes Anlaß hätten, sich dieses typischen Zusammenhanges zu erinnern. Das Kind, das sich so
unbändig benimmt, legt ein Geständnis ab und will Strafe provozieren. Es sucht in der
Züchtigung gleichzeitig die Beschwichtigung seines Schuldbewußtseins und die Befriedigung
seiner masochistischen Sexualstrebung.
Die weitere Klärung unseres Krankheitsfalles verdanken wir nun der mit großer Bestimmtheit
auftretenden Erinnerung, daß alle Angstsymptome erst von einem gewissen Vorfall an zu den
Zeichen der Charakteränderung hinzugetreten seien. Vorher habe es keine Angst gegeben, und
unmittelbar nach dem Vorfall habe sich die Angst in quälender Form geäußert. Der Zeitpunkt
dieser Wandlung läßt sich mit Sicherheit angeben, es war knapp vor dem vierten Geburtstag. Die
Kinderzeit, mit der wir uns beschäftigen wollten, zerlegt sich dank diesem Anhaltspunkte in zwei
Phasen, eine erste der Schlimmheit und Perversität von der Verführung mit 3¼ Jahren bis zum
vierten Geburtstag, und eine längere darauffolgende, in der die Zeichen der Neurose
vorherrschen. Der Vorfall aber, der diese Scheidung gestattet, war kein äußeres Trauma, sondern
ein Traum, aus dem er mit Angst erwachte.
[◀]
1768
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin