Seite - 1992 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Vorwort
Die nachstehenden vier Aufsätze, die unter dem Untertitel dieses Buches in den beiden ersten
Jahrgängen der von mir herausgegebenen Zeitschrift Imago erschienen sind, entsprechen einem
ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf
ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden. Sie enthalten also einen methodischen
Gegensatz einerseits zu dem groß angelegten Werke von W. Wundt, welches die Annahmen und
Arbeitsweisen der nicht analytischen Psychologie derselben Absicht dienstbar macht, und
anderseits zu den Arbeiten der Züricher psychoanalytischen Schule, die umgekehrt Probleme der
Individualpsychologie durch Heranziehung von völkerpsychologischem Material zu erledigen
streben[104]. Es sei gern zugestanden, daß von diesen beiden Seiten die nächste Anregung zu
meinen eigenen Arbeiten ausgegangen ist.
Die Mängel dieser letzteren sind mir wohlbekannt. Ich will diejenigen nicht berühren, die von
dem Erstlingscharakter dieser Untersuchungen abhängen. Andere aber erfordern ein Wort der
Einführung. Die vier hier vereinigten Aufsätze machen auf das Interesse eines größeren Kreises
von Gebildeten Anspruch und können eigentlich doch nur von den wenigen verstanden und
beurteilt werden, denen die Psychoanalyse nach ihrer Eigenart nicht mehr fremd ist. Sie wollen
zwischen Ethnologen, Sprachforschern, Folkloristen usw. einerseits und Psychoanalytikern
anderseits vermitteln und können doch beiden nicht geben, was ihnen abgeht: den ersteren eine
genügende Einführung in die neue psychologische Technik, den letzteren eine zureichende
Beherrschung des der Verarbeitung harrenden Materials. So werden sie sich wohl damit
begnügen müssen, hier wie dort Aufmerksamkeit zu erregen und die Erwartung hervorzurufen,
daß ein öfteres Zusammentreffen von beiden Seiten nicht ertraglos für die Forschung bleiben
kann. Die beiden Hauptthemata, welche diesem kleinen Buch den Namen geben, der Totem und
das Tabu, werden darin nicht in gleichartiger Weise abgehandelt. Die Analyse des Tabu tritt als
durchaus gesicherter, das Problem erschöpfender Lösungsversuch auf. Die Untersuchung über
den Totemismus bescheidet sich zu erklären: Dies ist, was die psychoanalytische Betrachtung zur
Klärung der Totemprobleme derzeit beibringen kann. Dieser Unterschied hängt damit zusammen,
daß das Tabu eigentlich noch in unserer Mitte fortbesteht; obwohl negativ gefaßt und auf andere
Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur nach doch nichts anderes als der
»kategorische Imperativ« Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivierung
ablehnt. Der Totemismus hingegen ist eine unserem heutigen Fühlen entfremdete, in Wirklichkeit
längst aufgegebene und durch neuere Formen ersetzte religiös-soziale Institution, welche nur
geringfügige Spuren in Religion, Sitte und Gebrauch des Lebens der gegenwärtigen Kulturvölker
hinterlassen hat und selbst bei jenen Völkern große Verwandlungen erfahren mußte, welche ihm
heute noch anhängen. Der soziale und technische Fortschritt der Menschheitsgeschichte hat dem
Tabu weit weniger anhaben können als dem Totem. In diesem Buche ist der Versuch gewagt
worden, den ursprünglichen Sinn des Totemismus aus seinen infantilen Spuren zu erraten, aus
den Andeutungen, in denen er in der Entwicklung unserer eigenen Kinder wieder auftaucht. Die
enge Verbindung zwischen Totem und Tabu weist die weiteren Wege zu der hier vertretenen
Hypothese, und wenn diese am Ende recht unwahrscheinlich ausgefallen ist, so ergibt dieser
Charakter nicht einmal einen Einwand gegen die Möglichkeit, daß sie mehr oder weniger nahe an
die schwierig zu rekonstruierende Wirklichkeit herangerückt sein könnte.
Rom, im September 1913.
1992
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin