Seite - 2078 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Einen einzigen Lichtstrahl wirft die psychoanalytische Erfahrung in dieses Dunkel.
Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das
Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen
bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen Animalischen
abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten
Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm
wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen.
In diesem ausgezeichneten Einverständnis zwischen Kind und Tier tritt nicht selten eine
merkwürdige Störung auf. Das Kind beginnt plötzlich eine bestimmte Tierart zu fürchten und
sich vor der Berührung oder dem Anblick aller einzelnen dieser Art zu schützen. Es stellt sich das
klinische Bild einer Tierphobie her, eine der häufigsten unter den psychoneurotischen
Erkrankungen dieses Alters und vielleicht die früheste Form solcher Erkrankung. Die Phobie
betrifft in der Regel Tiere, für welche das Kind bis dahin ein besonders lebhaftes Interesse
gezeigt hatte, sie hat mit dem Einzeltier nichts zu tun. Die Auswahl unter den Tieren, welche
Objekte der Phobie werden können, ist unter städtischen Bedingungen nicht groß. Es sind Pferde,
Hunde, Katzen, seltener Vögel, auffällig häufig kleinste Tiere wie Käfer und Schmetterlinge.
Manchmal werden Tiere, die dem Kind nur aus Bilderbuch und Märchenerzählung bekannt
worden sind, Objekte der unsinnigen und unmäßigen Angst, welche sich bei diesen Phobien
zeigt; selten gelingt es einmal, die Wege zu erfahren, auf denen sich eine ungewöhnliche Wahl
des Angsttieres vollzogen hat. So verdanke ich K. Abraham die Mitteilung eines Falles, in
welchem ein Kind seine Angst vor Wespen selbst durch die Angabe aufklärte, die Farbe und
Streifung des Wespenleibes hätte es an den Tiger denken lassen, vor dem es sich nach allem
Gehörten fürchten durfte.
Die Tierphobien der Kinder sind noch nicht Gegenstand aufmerksamer analytischer
Untersuchung geworden, obwohl sie es im hohen Grade verdienen. Die Schwierigkeiten der
Analyse mit Kindern in so zartem Alter sind wohl das Motiv der Unterlassung gewesen. Man
kann daher nicht behaupten, daß man den allgemeinen Sinn dieser Erkrankungen kennt, und ich
meine selbst, daß er sich nicht als einheitlich herausstellen dürfte. Aber einige Fälle von solchen
auf größere Tiere gerichteten Phobien haben sich der Analyse zugänglich erwiesen und so dem
Untersucher ihr Geheimnis verraten. Es war in jedem Falle das nämliche: die Angst galt im
Grunde dem Vater, wenn die untersuchten Kinder Knaben waren, und war nur auf das Tier
verschoben worden.
Jeder in der Psychoanalyse Erfahrene hat gewiß solche Fälle gesehen und von ihnen den
nämlichen Eindruck empfangen. Doch kann ich mich nur auf wenige ausführliche Publikationen
darüber berufen. Es ist dies ein Zufall der Literatur, aus welchem nicht geschlossen werden sollte,
daß wir unsere Behauptung überhaupt nur auf vereinzelte Beobachtungen stützen können. Ich
erwähne z.
B. einen Autor, welcher sich verständnisvoll mit den Neurosen des Kindesalters
beschäftigt hat, M. Wulff (Odessa). Er erzählt im Zusammenhange der Krankengeschichte eines
neunjährigen Knaben, daß dieser mit vier Jahren an einer Hundephobie gelitten hat. »Als er auf
der Straße einen Hund vorbeilaufen sah, weinte er und schrie: ›Lieber Hund, fasse mich nicht, ich
will artig sein.‹ Unter ›artig sein‹ meinte er: ›nicht mehr Geige spielen‹ (onanieren).« (Wulff,
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin