Seite - 2082 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Der im Jahre 1894 verstorbene W. Robertson Smith, Physiker, Philologe, Bibelkritiker und
Altertumsforscher, ein ebenso vielseitiger wie scharfsichtiger und freidenkender Mann, sprach in
seinem 1889 veröffentlichten Werke über die Religion der Semiten[233] die Annahme aus, daß
eine eigentümliche Zeremonie, die sogenannte Totemmahlzeit, von allem Anfang an einen
integrierenden Bestandteil des totemistischen Systems gebildet habe. Zur Stütze dieser
Vermutung stand ihm damals nur eine einzige, aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. überlieferte
Beschreibung eines solchen Aktes zu Gebote, aber er verstand es, die Annahme durch die
Analyse des Opferwesens bei den alten Semiten zu einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu
erheben. Da das Opfer eine göttliche Person voraussetzt, handelt es sich dabei um den
Rückschluß von einer höheren Phase des religiösen Ritus auf die niedrigste des Totemismus.
Ich will nun versuchen, aus dem ausgezeichneten Buch von Robertson Smith die für unser
Interesse entscheidenden Sätze über Ursprung und Bedeutung des Opferritus herauszuheben
unter Weglassung aller oft so reizvollen Details und mit konsequenter Hintansetzung aller
späteren Entwicklungen. Es ist ganz ausgeschlossen, in einem solchen Auszug dem Leser etwas
von der Luzidität oder von der Beweiskraft der Darstellung im Original zu übermitteln.
Robertson Smith führt aus, daß das Opfer am Altar das wesentliche Stück im Ritus der alten
Religion gewesen ist. Es spielt in allen Religionen die nämliche Rolle, so daß man seine
Entstehung auf sehr allgemeine und überall gleichartig wirkende Ursachen zurückführen muß.
Das Opfer – die heilige Handlung κατ’ εξοχήν (sacrificium, ιερουργία) – bedeutete aber
ursprünglich etwas anderes, als was spätere Zeiten darunter verstanden: die Darbringung an die
Gottheit, um sie zu versöhnen oder sich geneigt zu machen. (Von dem Nebensinn der
Selbstentäußerung ging dann die profane Verwendung des Wortes aus.) Das Opfer war
nachweisbar zuerst nichts anderes als »an act of social fellowship between the deity and his
worshippers«, ein Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gotte.
Als Opfer wurden dargebracht eßbare und trinkbare Dinge; dasselbe, wovon der Mensch sich
nährte, Fleisch, Zerealien, Früchte, Wein und Öl, das opferte er auch seinem Gotte. Nur in bezug
auf das Opferfleisch bestanden Einschränkungen und Abweichungen. Von den Tieropfern speist
der Gott gemeinsam mit seinen Anbetern, die vegetabilischen Opfer sind ihm allein überlassen.
Es ist kein Zweifel, daß die Tieropfer die älteren sind und einmal die einzigen waren. Die
vegetabilischen Opfer sind aus der Darbringung der Erstlinge aller Früchte hervorgegangen und
entsprechen einem Tribut an den Herrn des Bodens und des Landes. Das Tieropfer ist aber älter
als der Ackerbau.
Es ist aus sprachlichen Überresten gewiß, daß der dem Gott bestimmte Anteil des Opfers zuerst
als seine wirkliche Nahrung angesehen wurde. Mit der fortschreitenden Dematerialisierung des
göttlichen Wesens wurde diese Vorstellung anstößig; man wich ihr aus, indem man allein den
flüssigen Anteil der Mahlzeit der Gottheit zuwies. Später gestattete der Gebrauch des Feuers,
welcher das Opferfleisch auf dem Altar in Rauch aufgehen ließ, eine Zurichtung der
menschlichen Nahrungsmittel, durch welche sie dem göttlichen Wesen angemessener wurden.
Die Substanz des Trinkopfers war ursprünglich das Blut der Opfertiere; Wein wurde später der
Ersatz des Blutes. Der Wein galt den Alten als das »Blut der Rebe«, wie ihn unsere Dichter jetzt
noch heißen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin