Seite - 2088 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Beobachtung geworden. Was wir als primitivste Organisation finden, was noch heute bei
gewissen Stämmen in Kraft besteht, das sind Männerverbände, die aus gleichberechtigten
Mitgliedern bestehen und den Einschränkungen des totemistischen Systems unterliegen, dabei
mütterliche Erblichkeit. Kann das eine aus dem anderen hervorgegangen sein, und auf welchem
Wege war es möglich?
Die Berufung auf die Feier der Totemmahlzeit gestattet uns eine Antwort zu geben: Eines
Tages[237] taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater
und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem
Einzelnen unmöglich geblieben wäre. (Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung
einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben.) Daß sie den Getöteten auch
verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß
das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie
im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück
seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die
Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so
vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die
Religion[238]« (ibid., 228). Atkinson, dem die Winke der Psychoanalyse nicht zu Gebote standen
und dem die Studien von Robertson Smith nicht bekannt waren, findet einen minder gewaltsamen
Übergang von der Urhorde zur nächsten sozialen Stufe, auf welcher zahlreiche Männer in
friedlicher Gemeinschaft zusammenleben. Er läßt es die Mutterliebe durchsetzen, daß anfangs
nur die jüngsten, später auch andere Söhne in der Horde verbleiben, wofür diese Geduldeten das
sexuelle Vorrecht des Vaters in Form der von ihnen geübten Entsagung gegen Mutter und
Schwestern anerkennen. So viel über die höchst bemerkenswerte Theorie von Atkinson, ihre
Übereinstimmung mit der hier vorgetragenen im wesentlichen Punkte und ihre Abweichung
davon, welche den Verzicht auf den Zusammenhang mit so vielem anderen mit sich bringt.
Die Unbestimmtheit, die zeitliche Verkürzung und inhaltliche Zusammendrängung der Angaben
in meinen obenstehenden Ausführungen darf ich als eine durch die Natur des Gegenstandes
geforderte Enthaltung hinstellen. Es wäre ebenso unsinnig, In dieser Materie Exaktheit
anzustreben, wie es unbillig wäre, Sicherheiten zu fordern.
Um, von der Voraussetzung absehend, diese Folgen glaubwürdig zu finden, braucht man nur
anzunehmen, daß die sich zusammenrottende Brüderschar von denselben einander
widersprechenden Gefühlen gegen den Vater beherrscht war, die wir als Inhalt der Ambivalenz
des Vaterkomplexes bei jedem unserer Kinder und unserer Neurotiker nachweisen können. Sie
haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im
Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß
befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußten sich die
dabei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen[239]. Es geschah in der Form der
Reue, es entstand ein Schuldbewußtsein, welches hier mit der gemeinsam empfundenen Reue
zusammenfällt. Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war; all dies, wie wir es
noch heute an Menschenschicksalen sehen. Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte,
das verboten sie sich jetzt selbst in der psychischen Situation des uns aus den Psychoanalysen so
wohl bekannten »nachträglichen Gehorsams«. Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des
Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie
sich die freigewordenen Frauen versagten. So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes
die beiden fundamentalen Tabu des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin